Mein letzter Artikel ist genau sechs Monate her. Langweilig war mir in dem halben Jahr nicht, auch ist es nicht so, dass es keinerlei Gesprächsthemen gab. Oft geht es mir eher so, dass ich denke: „Eigentlich habe ich das und das und das ja schon mal thematisiert, soll ich das jetzt noch mal breittreten?“ Oder aber: „Ist gerade alles nicht so einfach hier, aber eigentlich nichts, was ich der Öffentlichkeit kundtun sollte.“ Es gab im vergangenen halben Jahr gute Zeiten und schwierige Zeiten. Zum einen habe ich mich richtig eingelebt. Ich habe das zweite Nepali-Semester erfolgreich abgeschlossen (wenngleich ich es trotzdem wiederhole, um mich zu verbessern und auch um Zeit zu schinden), ich fühle mich in meiner Wohnung pudelwohl, mein einheimischer Freundeskreis wächst, die Arbeit mit den Kindern erfüllt mehr denn je. Es vergeht kein Tag, da mich nicht eines der Kinder auf besondere Weise berührt. Über die Schattenseiten spreche ich auf dem Blog selten. Im Juni gab es große Schwierigkeiten mit der Hausleitung aufgrund diverser kultureller Differenzen. Auch vermisse ich meine Freunde und meine Familie einfach sehr, und auch wenn ich hier eine zweite Familie gefunden habe, ersetzt sie eben nicht die Menschen in der Heimat, die mir ebenfalls zutiefst am Herzen liegen. Und schließlich entpuppte sich der diesjährige September als einer der schwierigsten in meinem Leben.
Nun hatte ich die tolle Chance, mir einen Traum zu erfüllen und in zwölf Tagen den Trek zum Mount-Everest-Base-Camp zu absolvieren (und zurück). Ich hatte mir erhofft, mir ein wenig Klarheit über mein Leben zu verschaffen und inmitten der hiesigen majestätischen Natur abzuschalten, an meine körperlichen Grenzen zu kommen und einen Bezug zu meinem Leben zu entdecken. Das hat wunderbar funktioniert – daher der Titel. Aus diesem Grund zunächst einmal ein paar Takte zum Trek, ehe ich dann zu meinem Seelenleben komme.
सगरमाथा – Sagarmāthā
„Sagarmāthā“, der nepalesische Name des Mount Everests, bedeutet in etwa „Stirn des Himmels“, was ich als recht poetisch empfinde, so als ob sich der Berg über den Himmel erhebe und dessen Spitze bilde. So kommt es einem aber tatsächlich fast vor – wenn man ihn denn zu Gesicht bekommt, denn das Wetter ist unberechenbar. Das zeigt sich auch gleich am ersten Tag: Als ich aufwache, fluche ich innerlich erst einmal, denn draußen gießt es in Strömen. Gerade heute! Das Wetter war in den vergangenen Wochen eigentlich relativ solide, und zumindest schien es, als neige sich die Regenzeit dem Ende zu. Heute nun das glatte Gegenteil. Trotzdem kämpfe ich mich aus dem Bett (ist ja erst 4 Uhr morgens), und um 4:30 Uhr werde ich abgeholt, denn um 5 Uhr soll ich am Flughafen sein, eine Stunde später soll es Richtung Lukla gehen. Ein wenig mulmig ist mir zumute, denn Lukla gilt als einer der gefährlichsten Flughäfen der Welt mit einer Landebahn, an deren Ende es 600 Meter steil in die Tiefe geht. Allerdings landen (halt bei gutem Wetter) die Maschinen routiniert im Minutentakt und sind seit dem letzten schweren Unfall im Mai 2008 auch bei Schlechtwetter weitaus vorsichtiger geworden. Was ja eigentlich gut ist. Nur heute nervt es, denn dass keine Flüge ab 6 Uhr rausgehen, ist schnell abzusehen. Stündlich wird die Abflugszeit nach hinten geschoben. Insgesamt sitze ich geschlagene sechs Stunden am inzwischen völlig überfüllten Flughafen, ehe mein Flug offiziell gestrichen wird. Ich gebe Durga, meinem Reiseberater, durch, dass ich heute nicht fliegen kann, und fahre wieder heim, allerdings ruft er mich kurze Zeit später erneut an, ich könne gegen einen geringen Aufpreis mit dem Helikopter nach Lukla, er hätte mir sicherheitshalber einen Sitzplatz reserviert. Da die Wettervorhersage für morgen nicht berauschend ist und ich nicht riskieren will, morgen wieder stundenlang ergebnislos am Flughafen sitzen zu müssen, entschließe ich mich also dazu.
In Kathmandu ist das Wetter inzwischen wieder solide und sonnig, aber in Lukla ist es nachmittags in aller Regel bewölkt, daher werden heute wohl sämtliche Flüge gestrichen. Mit dem Heli ist auch eine Landung bei schlechterem Wetter möglich (so heißt es), abgesehen davon war ich noch nie in einem und finde die Situation daher recht aufregend. Mit zwei Israelis, einem Tschechen und mir hebt die Pilotin (!!!! – beeindruckt mich in einem Land wie diesem ganz besonders) ab. Da Helis tiefer fliegen als Flugzeuge und unter der Wolkendecke bleiben, ist die Perspektive wirklich faszinierend und der Wandel vom häuserüberfüllten Kathmandutal in immer spärlicher besiedelte grüne Gebiete spannend zu beobachten. Nur kommt dann kurz vor Ziel eine relativ niederschmetternde Durchsage: Der Flughafen in Lukla sei geschlossen. Es sei doch zu nebelig. Ich will gar nicht wahrhaben, dass ich nun mehr bezahlt habe und doch wieder nach Kathmandu zurückkehren muss. Allerdings bleibt die Pilotin auf Kurs und sagt, dass wir einfach mal schauen, wie das Wetter tatsächlich dort ist, weil sich das auch schnell ändern kann. Aber auch sie stellt fest: Die Wolken sind zu dicht. Eine Landung wäre zu gefährlich. Also entschließt sie sich zu einer halben Notlandung 400 Meter tiefer auf einem Feld in Surke und verkündet, dass wir entweder in einer Lodge nächtigen und mit ihr morgens nach Lukla hochfliegen oder den etwa einstündigen Fußmarsch hoch zum Dorf auf uns nehmen können. Eine Stunde? Klingt machtbar, sag ich mir. Ich hab zwar nur wenige Stunden geschlafen und kaum was gegessen, fühle mich aber grad fit und vital.
Ich rufe meinen Guide an, Hem, der oben in Lukla wartet und mir sagt, dass er mir entgegenkommt. Auf den Tatendrang folgt dann leider auch relativ schnell die Ernüchterung: Es wird nämlich nicht nur eine halbe Stunde später dunkel, sondern fängt obendrein an zu gießen. Bestand der erste Streckenabschnitt noch aus Felsentreppen, muss ich nun total glitschige, sandige Abhänge hochklettern. Ich habe eine gute Regenjacke und werde nicht nass, aber es ist furchtbar anstrengend und ich spüre, dass Müdigkeit und Energielosigkeit mich überkommen. Eine Stunde ist mindestens schon vergangen; als Hem und ich aufeinandertreffen, erfahre ich, dass ich gerade mal ein Drittel des Weges hinter mich gebracht habe. Immerhin: Hem ist ein fröhlicher, angenehmer Zeitgenosse, der meine Stimmung gleich hebt. Unterwegs stoppen wir bei einem seiner Angehörigen in einer Teestube und bekommen etwas Heißes zu trinken. Ich frage gar nicht mehr danach, wie lange es noch dauert, bis wir in Lukla ankommen, denn ich fürchte mich vor der Antwort, sage mir aber immer wieder eines: „Wenn ich das hier schaffe, schaffe ich auch den restlichen Trek!“ Als wir das kleine Dorf unterhalb des Everest-Himalayas schließlich erreichen, ist es bereits nach acht Uhr abends. Über drei Stunden hat der „einstündige“ Marsch gedauert. Ich bin fix und fertig, freue mich aufs Dal Bhat und auf mein Bett.
Glücklicherweise war das tatsächlich bereits der schlimmste Teil der Reise. Womit ich nicht sagen will, der Trek sei nicht anstrengend, ganz im Gegenteil. Zwar würde ich nicht sagen, nur Experten und Profis könnten den Weg bestreiten (gewisse Grundfitness ist natürlich von Vorteil), aber es geht immerhin knappe 3100 Höhenmeter nach oben, und die sind nicht ohne. Ist es am ersten Tag noch bewölkt, klart der Himmel am zweiten Tag auf. Den ganzen Trek über haben wir nun den halben Tag strahlend blauen Himmel und Sonnenschein, ehe wir uns nachmittags wieder inmitten der Wolken befinden, aber da wir nur vormittags unterwegs sind, schmälert das die Stimmung in keiner Hinsicht. Je höher wir gelangen, desto kühler wird es, wobei ich leider unterschätze, um wie viel näher wir uns der Sonne befinden und sie mir dementsprechend die Glatze versengt. Sobald sie weg ist, wird es recht kalt, aber mein Schlafsack hält mich nachts schön warm. Nach einem kleinen Frühstück brechen Hem und ich immer gegen acht Uhr morgens auf und sind vier bis fünf Stunden unterwegs. Es ist eine angenehme Mischung zwischen Smalltalk und ruhigen Minuten, in denen ich mich aufs Wandern und auf die Natur besinnen kann, außerdem verdonnere ich Hem dazu, so viel Nepalesisch mit mir zu sprechen wie möglich. Zu tiefgreifenden Diskussionen reicht das noch lange nicht, aber Tag für Tag eigne ich mir ein paar neue Vokabeln und Sätze an und kann Altbekanntes wiederholen. Das hilft enorm, nicht völlig aus der Übung zu kommen, da ich ja nun aufgrund der Feiertage Dashain und Tihar satte sechs Wochen kein College habe.
Bis zum Base Camp vergeht eine gute Woche. Jeder Tag ist angereichert mit vielen Eindrücken. Die Natur ist zweifelsohne atemberaubend und kaum in Worte zu fassen – und bei jedem Foto, das ich schieße, denke ich nur, dass eine Aufnahme überhaupt nicht adäquat widerspiegeln kann, was ich mit eigenen Augen sehe und mental und seelisch einatme. Darüber hinaus trifft man viele nette Leute: Damit meine ich keine nervigen Trekker-Gruppen (die sich glücklicherweise stark in Grenzen halten, da die Hauptsaison noch zwei, drei Wochen entfernt liegt), sondern vor allem die Einheimischen. Nun habe ich das besondere Glück, dass Hem aus einer großen Familie stammt und allein sein Vater sieben Geschwister hat, deren Kinder überall entlang des Treks verstreut leben. Ständig begrüßt Hem mit einem strahlenden Lächeln Einheimische am Wegesrand oder Porter oder Guides, die uns entgegenkommen, oder wir machen Halt an einer kleinen Teestube, legen die Rucksäcke ab und bekommen kostenlosen Tee oder eine Suppenschale mit Momos oder ein paar Kekse. Rigoros verlangt Hem, dass ich mit seiner Verwandtschaft Nepalesisch spreche, und wenn ich ein paar Brocken äußere, erwartet mich eine Redefluss, dem ich unmöglich folgen kann, aber ich genieße trotzdem jeden Augenblick in vollen Zügen.
Die Berge nähern sich mit jedem Tag, und auch das Landschaftsbild verändert sich täglich. Dominieren Wald, Flüsse, Wasserfälle und grüne Hügel noch die ersten paar Tage, wird die Landschaft allmählich immer karger. Die Hügel werden bräunlicher, die weißen Bergspitzen werden deutlicher und größer. Schließlich befinden wir uns in einer Felsenwüste ohne jegliches Leben, was sich tatsächlich am meisten in der Geräuschkulisse zeigt – denn außer dem Wind oder einer gelegentlichen Stein- oder Schneelawine im Gebirge hört man nichts mehr. Kein Vogelgezwitscher, keine Insekten, kein Wasserrauschen mehr, nur noch Totenstille. Dies ist ein Gefühl, das sich gar nicht so recht beschreiben lässt – ich fühle mich nicht nur im Einklang mit der Schöpfung, sondern trotz der dünnen Luft, die hier oben herrscht (und die mir wirklich zu schaffen macht), spüre ich, wie sich mir der Kopf klart und ich auch mit mir selbst mehr ins Reine komme. Ich schwitze und hechele und jeder einzelne Schritt kostet unglaublich viel Kraft und Energie, und dennoch hat das Ganze etwas sehr Meditatives.
Ich muss wohl kaum beschreiben, welch Gefühl es ist, endlich neben dem per Hand bekritzelten Felsen zu sitzen, der verkündet, dass wir das Base Camp erreicht haben. Die Sicht ist sagenhaft; um uns herum gewaltige, majestätische Berge, der Himmel in einem tiefen Blau. Ich denke an den Anreisetag zurück und ich mir immer wieder sagen musste, dass ich den Trek bewältige, wenn ich den ersten schwierigen Aufstieg schaffe. Damit will ich nicht sagen, dass der Aufstieg von Tag zu Tag leichter wird – jeder Tag war eine Herausforderung, zumal der Sauerstoff eben auch immer mehr abnimmt. Aber mit jedem Tag, den man meistert, bereitet man sich so auf den nächsten vor, und so ist die neue Herausforderung schwierig, aber machbar. Dabei darf man nicht vergessen, zwischendurch stehenzubleiben, zu verschnaufen und einfach zu genießen, denn auch das Landschaftsbild zwischendurch ist schon sagenhaft und man sieht, was man bereits alles erreicht hat. Das muss natürlich besungen werden mit dem Lied über die Berge Nepals, das mir Hem auf dem Weg beigebracht hat:
बिहानी उठ्ने बित्तिकै
हिमाल देख्न पाइयोस
यी हात्ले सधै सधै
नेपाल लेख्न पाइयोस
(Sobald ich morgens aufstehe,
wünsche ich mir, die Berge zu sehen;
und ich wünsche mir immer wieder,
mit der Hand „Nepal“ zu schreiben.)
Und ist das Ziel das Ziel? Tatsächlich nein. Es entpuppt sich als Teilziel. Am Tag nach dem Base Camp geht es hoch nach Kala Patthar, einem schwarzen Felsen, der noch mal hundert Meter höher liegt und dessen Anstieg fast mit der Tortur hoch nach Lukla zu vergleichen ist: Wir stiefeln bereits morgens um 4:30 Uhr los, damit wir dort den Sonnenaufgang erleben können. Zwar ist es trocken, aber im Dunkeln steil bergauf ist einfach doppelt mühsam. Nach und nach wird es jedoch hell, nach und nach erkennt man die Berge, nach und nach sieht man, was man eigentlich alles schon zurückgelegt hat und mit dem kleinen Lichtstrahl der Taschenlampe gar nicht erkennen konnte. Die Berg-Wolkenlandschaft, die uns erwartet (siehe Titelbild ganz oben), ist fast surreal, ein Schöpfungsgemälde, ein wahrer Kunstgriff Gottes. Wer hätte gedacht, dass es nach dem Base Camp eine noch krassere Aussicht gibt? Aber so ist das Leben: Der Aufstieg geht weiter und es gibt immer noch eine Aussicht, die besser ist als die vorige, oder vielleicht auch einfach eine gleichwertig schöne. Vielleicht ist es das, was ich auf dem Trek lerne, auch wenn es etwas ist, was ich längst weiß: Es gibt immer etwas, wofür sich die Mühe lohnt. Aber: Ich muss auch lernen, den Lohn zu sehen, den ich bereits während der Arbeit erhalte. Und: Bewölkte Tage gibt es immer. :)
Da ich meine Fotos bereits auf Facebook hochgeladen habe und die meisten Leser sie kennen, habe ich sie hier einfach in eine Slideshow gepackt. Wer sie noch nicht kennt, für den lohnt es sich bestimmt, sie sich ausführlich zu Gemüte zu führen.
Seelische Everests
Die erste Jahreshälfte lief trotz den üblichen Hochs und Tiefs ganz gut. In meinem letzten Eintrag habe ich noch darüber gesprochen, wie ich von Hausleiter Navaraj geradezu brüderlich behandelt worden bin. Dem war auch so, und ich hatte wirklich das Gefühl, es käme von Herzen. Vielleicht meinte er es auch aufrichtig, aber mittlerweile sind mir Zweifel gekommen, denn die Differenzen von vor einem Jahr haben nun Ausmaße angenommen, mit denen ich einfach nicht gerechnet habe. Wie zu Beginn angesprochen gab es bereits im Juni eine ziemliche Krise zwischen der Hausleitung und den Praktikanten, bei der ich das Gefühl hatte, zwischen den Fronten zu stehen und vermitteln zu müssen, und auch wenn ich mich bemüht habe, beide Seiten zu verstehen, erreichte mein Verständnis dennoch irgendwann eine Grenze (um das Kind beim Namen zu nennen: Wenn unsere Kinder von einem Teil der Hausleitung brutal verprügelt werden – nepalesische Kultur hin oder her –, und wenn junge deutsche Praktikantinnen von einem Teil der Hausleitung regelrechtem psychischem Terror ausgesetzt werden). Irgendwie besserte sich die Lage, und ich hatte wirklich immer den Eindruck, gerade mit Navaraj vernünftig und in gutem Ton über die Probleme reden zu können. Was ist nun passiert? Mit Bestimmtheit weiß ich es nicht; ich habe meinen Verdacht, aber auf dieser Plattform zu spekulieren, wäre vermutlich unangebracht. Jedenfalls ist Navaraj auf die Vereinsleiterin zugegangen. Ob ich schwul sei. Dass er nämlich gehört habe, ich würde bestimmte ältere Jungen favorisieren. Öfter in den Arm nehmen als andere. Als ob ich mich wegen meiner Sexualität an ihnen aufgeile. Dieser Schlag war schwer genug, aber der nächste traf mich noch härter: Sollte ich meine Sexualität hier vor Ort jemals ausleben, würde die Vereinsleiterin erwarten, dass ich von meiner Position als stellvertretender Vereinsvorsitzender (die ich gerade erst zwei Monate zuvor angenommen hatte) zurücktrete. Homosexualität sei auch nicht angeboren. Sollte ich meine Sexualität ausleben und jemand würde davon erfahren, käme der Verein hier vor Ort und in Deutschland in Verruf.
Ich fühle mich wie auf dem Weg nach Lukla; ich strauchele durch Regenschauer glitschige, steile Abhänge hoch. Es ist dunkel geworden und ich kann die Landschaft um mich herum nicht mehr erkennen. Ich denke an die Zeit nach dem Erdbeben und wie wir Praktikanten zusammengehalten haben, damit nicht alles auseinanderbricht. Wie wir uns in besonders schweren Momenten einfach zu den Kindern gesetzt und sie in den Arm genommen und gespürt haben, dass sie uns brauchen. Ich denke daran zurück, dass ich mein Leben in Deutschland aus völlig freien Stücken aufgegeben habe, um nach Nepal zurückkehren zu können. Auch wenn ich die Kinder unendlich stark vermisste habe, ging diese Entscheidung mit vielen Opfern einher. Aber ich wollte es. Ich spürte, wo mein Platz ist. Ich wollte die Arbeit in Kathmandu unbedingt fortsetzen, und nach meiner Rückkehr konnte ich an jedem einzelnen Tag verspüren, auch an den ätzenden, dass ich hier genau richtig bin und dass die Kinder mich brauchen und ich auch sie. Dieser Lohn ist mir wichtiger als die Anerkennung anderer.
Nur damit mich keiner falsch versteht: Mir war völlig klar, dass meine Sexualität in einem Land, wo dieses Thema kulturell sehr viel schwieriger ist als im Westen, irgendwann mal zur Sprache kommt. Aber ich habe mich nie davor gefürchtet, wieso auch? Ich habe nie irgendetwas abgestritten, aber eben auch nie groß darüber gesprochen, weil ich das als unprofessionell empfunden hätte. Ich habe nie etwas getan, was sich negativ auf meine Arbeit oder auf den Verein als Solches hätte auswirken können. Wenn die Kinder mich fragen, weshalb ich nicht verheiratet bin, sage ich immer, dass Heirat im Westen nicht mehr so verbreitet ist wie hier, was ja stimmt. Wenn sie mich fragen, ob ich keine Kinder will, sage ich immer, dass ich doch sie habe – und das meine ich von ganzem Herzen. Was meine Sexualität angeht, war und bin ich diskret – alles andere wäre unprofessionell. Aber etwas, was ich an der nepalesischen Kultur tatsächlich liebe und schätze, ist, dass Männer offenherzig und unbedarft körperliche Zuneigung zeigen. Händchenhaltend durch die Straßen gehen. Dass die Jungen, wenn sie von der Schule heimkommen, mich anlächeln und die Arme ausbreiten und sich darüber freuen, in den Arm genommen zu werden. Dass sie sich freuen, vor dem Schlafengehen einen Gute-Nacht-Kuss auf die Stirn zu bekommen. Welche Rolle spielt denn meine Sexualität dabei? Handle ich nicht so, wie ein Vater seine Kinder behandeln würde? Soll ich den Jungen eine Umarmung verweigern? Als wir gestern zusammensaßen und ein paar Lieder für das Tihar-Programm durchgingen, kam einer der Jungen neben und legte seinen Kopf auf meine Schulter und schmiegte sich regelrecht an mich. Er war über Dashain im Dorf, und ich spürte, dass er seine Mutter vermisst. Soll ich ihn wegstoßen? Ihm sagen, dass sich solches Verhalten nicht schickt? Niemals.
Navaraj hat seit rund sechs Wochen nicht ein Wort mehr mit mir gewechselt. Wenn ich eines der Grundstücke betrete, dreht er den Kopf weg und geht ins Haus oder verlässt das Grundstück ganz und gar. Letztens sind wir uns auf dem Weg zwischen den Häusern entgegengekommen und ich habe ihn begrüßt, aber er hat seinen Kopf konsequent von mir gewandt. Ich würde über ein so kindisches Verhalten lachen, wenn es nicht so unglaublich traurig (und ehrlich gesagt auch albern) wäre. Vielleicht schämt er sich, vielleicht hasst er mich, vielleicht bin ich ihm peinlich, vielleicht weiß er selbst nicht, was er überhaupt denken soll. Aber ehrlich gesagt pfeife ich auf seine persönliche Meinung von mir. Ja, ich habe ihm vertraut, und dieses Vertrauen hat er bis aufs Weitere zerstört und das tut mir weh. Ich werfe ihm auch vor, dass seine Anschuldigungen berechnend waren und er mich loswerden will, was mich tief verletzt hat, aber inzwischen sehe ich das Ganze abgeklärter, einfach weil ich weiß, dass mich hier niemand einfach so loswird. Wie er letztlich damit umgeht, muss er selbst wissen. Ich brauche nicht seine Zustimmung, um glücklich sein zu können.
Von meiner Position als stellvertretender Vereinsvorsitzender bin ich augenblicklich zurückgetreten und habe alle meine Vereinsaufgaben niedergelegt. Ohne Vertrauensgrundlage ist eine Zusammenarbeit auch gar nicht möglich. Dies war meine Entscheidung, auch wenn ich ehrlich gesagt nicht das Gefühl hatte, dass ich überhaupt eine Wahl habe, wenn man versucht, sich derart aktiv in mein Privatleben einzumischen, und mir vorschreiben will, wie ich zu leben habe. Ich versuche, ein gutes Leben zu führen, das niemandem Anlass gibt, an meiner Integrität und an meinen persönlichen Maßstäben zu zweifeln. Ich versuche, meine Arbeit mit den Kindern professionell und gleichzeitig liebevoll zu gestalten. Nichts, was ich tue, würde den Verein in Verruf bringen, davon bin ich felsenfest überzeugt. Das Verhalten und die Haltung sowohl von Haus- als auch Vereinsleitung und die unstete Zukunft des Vereins empfinde ich da ehrlich gesagt als weitaus fragwürdiger.
Auf dem Trek bin ich zahlreichen Yak-Herden begegnet, die als Lasttiere zwischen den einzelnen Dörfern genutzt werden. An manchen Stellen musste ich stehenbleiben und warten, dass die Herden vorbeiziehen können, denn der Weg war zu schmal, um einfach an ihnen vorbeizugehen. Außerdem ist er teilweise gepflastert mit croissantförmigen Yak-Fladen und man muss aufpassen, wohin man den Fuß setzt. Im Leben ist es ähnlich. Leider gibt es Menschen, die einem wie Yak-Fladen den Weg vermiesen wollen. Im schlimmsten Fall haften sie an und man muss sie eine Wegstrecke lang ertragen, ehe man sie loswird, aber das darf einen nicht aus der Fassung bringen. Die Aussicht auf die weißen Bergspitzen, die Hügel, das Edelweiß, der blaue Himmel, der rauschende Fluss, die Sanddornbüsche sind viel zu schön, als sich die Stimmung verderben zu lassen. Bei der Generalkonferenz am vergangenen Wochenende hat Dieter F. Uchtdorf gesagt: „[Wir werden] unsere Feinde lieben. Wir werden Wut und Hass überwinden. Wir werden unser Herz mit Liebe zu allen Kindern Gottes anfüllen. Wir werden uns anderen zuwenden, um ihnen Gutes zu tun, und ihnen dienen – auch denen, die uns möglicherweise ,böswillig behandeln und [uns] verfolgen‘.“ Die Aussage ist mir sehr zu Herzen gegangen und hat mir, in Verbindung mit meinem Trek, neue Perspektive gegeben. Jemandem zu lieben, der einen verachtet und diskriminiert, davon bin ich noch weit entfernt, aber Wut und Hass kann ich mit der Zeit überwinden, weil ich dadurch letztlich ja nur selbst runtergezogen werde.
Als ich nach meiner Rückkehr nach Kathmandu wieder steten Handy-Empfang habe, bekomme ich einen Anruf von einer unbekannten Nummer – einer Nummer, von der mich, wie ich sehe, in der vergangenen Woche ständig jemand versucht hat, anzurufen. Es ist einer der Jungen, der sich gerade im Dorf bei seinen Angehörigen befindet. Ich freue mich natürlich, frage aber gleich: „Ist alles in Ordnung?“ „Ja, Onkel“, kommt die Antwort. „Aber ich wollte anrufen, weil ich dich so vermisse!“
Und genau deshalb bin ich hergekommen und genau deshalb bleibe ich hier. Und genau deshalb ist kein Everest zu hoch und kein Yak-Fladen zu groß. Ich lasse mich nicht verscheuchen. Ich lasse mich nicht diskriminieren. Ich lasse mich nicht vergraulen. Ich lasse mich nicht wegmobben. Ich liebe die Kinder, und selbst wenn es zeitweise regnet und dunkel ist, sind sie jeden noch so steilen Anstieg wert.