Ein Jahr Nepal

Mein nepalesisches Schriftbild hat sich im Laufe der vergangenen Monate gewaltig verändert.
Mein nepalesisches Schriftbild hat sich im Laufe der vergangenen Monate gewaltig verändert.

Heute vor einem Jahr bin ich nach Nepal zurückgekommen. Ein Jahr ist das her! Wo ist denn nur die Zeit geblieben? Vergangene Woche bin ich von Kind zu Kind gehopst und habe die Nachricht stolz und auch leicht fassungslos verkündet: „Arko hapta ma nepalma baseko ek barsa hunchha!“ Selbst die Kinder machen große Augen. Schon ein Jahr! Was hat sich in dieser Zeit getan? Hier eine kleine Bilanz nach zwölf Monaten.

Ein Jahr schlauer

Dem Wunsch, nach Nepal zurückzukehren, folgte der Gedanke, wie das überhaupt möglich sein soll – sofern es jedenfalls langfristig sein sollte. Denn wenngleich man denkt, dass ein armes Land ehrenamtlich tätige Hilfskräfte mit offenen Armen empfangen würde, macht die nepalesische Gesetzesgebung es einem erstaunlich schwer, eine Aufenthaltsgenehmigung zu erhalten, die über das Touristenvisum hinausgeht. Das hat unterschiedliche Ursachen: Die verkifften Hippies, die vor zwanzig, dreißig, vierzig Jahren ins friedliche Königreich Nepal strömten, haben im Vorfeld einiges kaputtgemacht, heutzutage sind es zwielichte Hilfsorganisationen, die eigentlich ganz und gar nicht helfen, und auch christliche Missionare aus dem südostasiatischen Raum und den Vereinigten Staaten, die mit dubiosen Mitteln Bekehrungsarbeit durchführen und in den Vordergrund stellen, so viele wie möglich zu christianisieren (mit Geld, falls nötig), anstatt einfach anzupacken und zu helfen. Jedenfalls bleiben einem nicht viele Möglichkeiten: Ein Arbeitsvisum ist an sehr mühselige Bedingungen geknüpft, für ein Businessvisum braucht man Eigenkapital, und zwar nicht wenig. Es bleibt das Studentenvisum. Das Prozedere habe ich ja schon beschrieben, aber es ist trotzdem vergleichsweise wenig aufwändig, vor allem wenn man es einmal durchlaufen hat und weiß, was auf einen zukommt. So erfolgte die Einschreibung ins 2. Semester weitaus schneller als ins 1., was aber auch daran liegt, dass sich jedes Jahr Unmengen fürs 1. Semester einschreiben, damit sie mit dem Visum länger im Land bleiben können, aber dann nicht zum Unterricht erscheinen. Bei der Einführungsveranstaltung zum 2. Semester mussten wir daher alle eine Vereinbarung unterschreiben, den Nepalikurs ernstzunehmen und auch wirklich am Unterricht teilzunehmen. „Über 400 haben sich eingeschrieben“, erklärte der campus chief. „Aber zur Abschlussprüfung sind nur knapp über 100 erschienen. Die Einwanderungsbehörde macht Stress, weil sie uns fragen, wo alle unsere Studenten abgeblieben sind.“ Und wenn in Nepal jemand Stress macht, hat das schon etwas zu bedeuten.

Wie weit bin ich nun in Nepali? Es ist nach wie vor eine sehr schwierige Sprache. Nach wie vor frustet es mich, dass 95% derjenigen, die sich einschreiben, bereits fließend sprechen und es ihnen schnurzegal ist, dass es ein paar lausige Anfänger wie mich gibt. Das 2. Semester ist weitaus anspruchsvoller als das erste, was aber auch daran liegen kann, dass mein jetziger Lehrer seinen Job sehr viel ernster nimmt als mein Lehrer im Sommersemester. Damit will ich nicht sagen, er sei gut; aber Methodik im Unterricht ist hier im Land eben keine Stärke noch wird während des Studiums irgendeine Form von Didaktik vermittelt. Ich bin schon froh, dass ich dem Material einigermaßen folgen kann, und ich mache fleißig meine Hausaufgaben. Mein Plan ist sowieso, durch die Prüfung zu fallen, weshalb ich mich gar nicht stresse. Auf diese Weise kann ich mich darauf einstellen, was alles im 2. Semester gefragt ist, und als Bonus kann ich sogar noch länger im Land bleiben.

Meine Erfolgserlebnisse habe ich also nicht am College. Die habe ich stets daheim. Die didis sind außer sich vor Freude, dass einer der Praktikanten ihre Sprache lernt. „Yo ke ho?“, fragen sie mich, wenn ich vor dem Essen in der Küche bin und bei der Essensverteilung helfe. Also muss ich den Gegenstand benennen, auf den sie zeigen. Anweisungen gibt es nur noch auf Nepali. „Maile bujina“, musste ich oft sagen („Ich hab dich nicht verstanden“), inzwischen schnappe ich genügend Wörter auf, dass ich weiß, was sie wollen. Die Kinder sprechen nach wie vor meist Englisch, aber sie trauen sich immer mehr, mich auf Nepalesisch anzusprechen. Natürlich eher nicht bei der study time, sondern zwischendrin, einfach um mit mir zu üben. Dipendra von den Apartment-Jungs hilft mir jeden Tag bei den Hausaufgaben. Es gibt Sätze und Begriffe, die habe ich schon hundertmal gehört und vergesse sie trotzdem wieder. Aber ich verbuche Erfolge. Das Handeln mit Taxifahrern oder auf dem Markt ist viel unkomplizierter, wenn ich meine Preisvorstellungen auf Nepalesisch kundtue. Smalltalk klappt gut. Bis ich die Sprache fließend beherrsche (falls es jemals dazu kommen sollte), wird noch eine lange Zeit vergehen, aber unterkriegen lasse ich mich nicht.


Ein Jahr verständnisvoller

Die kulturellen Differenzen zu überbrücken ist gar nicht so einfach. Der Kulturclash zwischen den kritikfreudigen Deutschen und den konfliktscheuen Nepalesen ist ganz schön groß, und es ist eine waschechte Herausforderung, da eine gesunde Balance zu finden. So lief zwischen unserer nepalesischen Hausleitung und mir nicht immer alles völlig friedlich ab – wie auch? Die ziehen seit zehn Jahren ihr Programm durch und dann kommen diese ganzen Deutschen mit ihren komischen westlichen Ideen. Da aufeinander zuzugehen und auf der Seite der Nepalesen einen Schritt ins Unbekannte zu gehen und auf der Seite der Deutschen einzusehen, dass hierzulande nicht alle deutschen Methoden ziehen, ist echt taff. Aber es hat sich etwas getan, und zwar gewaltig. Nachdem wir im Spätsommer ein paar Krisen durchliefen, geht es kontinuierlich aufwärts. Navaraj behandelt mich wie einen richtigen Bruder. Er involviert mich in alles, überträgt mir Verantwortung, weiß gleichzeitig, dass ich seine Arbeit respektiere und schätze. Er hilft mir mit der Sprache, hat mir geholfen, eine tolle Wohnung zu finden (siehe unten), und strahlt insgesamt viel Freude und Gelassenheit aus, die sich auf seine Familie und auch auf die Kinder übertragen. Alles läuft natürlich noch nicht glatt, aber wir sind auf dem Weg dahin. Vor ein paar Tagen drückte er mir einen Schlüssel in die Hand und meinte: „Ben Uncle, du bist fast ein Jahr in Nepal. Es wird Zeit, dass du endlich lernst, Scooter zu fahren.“ Und dann musste ich auf dem Fußballplatz ein paar Runden drehen, bis er verkündete: „Okay, das reicht. Jetzt ab auf die Straße.“ Und nun muss ich täglich üben, darauf besteht er. Bislang bin ich auch nur einmal auf die Fresse gefallen. :) Solche Aktionen und Gesten bestärken nicht nur die Zusammenarbeit, sondern führen zu wahrem brüderlichen Verhalten.


Ein Jahr unabhängiger

Ellen hat mir ihr Zimmer im Haus zur Verfügung gestellt, weil sie ja den Großteil des Jahres über in Deutschland verweilt. Es ist ein schönes Zimmer mit eigenem Bad, was schon echter Luxus ist. Sonst war ich es ja gewohnt, mir mit den anderen männlichen Praktikanten ein Zimmer zu teilen, was auch kein Problem ist – zumindest für einen gewissen Zeitraum. Kam Ellen nach Nepal, zog ich ins neue Haus rüber zu Rajesh. An sich auch kein Ding. Nur, und da kommt jetzt doch das etwas anspruchsvollere deutsche Denken durch: Ich bin Mitte 30. Ich hatte viele Jahre lang meine eigene Wohnung. Überhaupt keine Rückzugsmöglichkeit zu haben, funktioniert für eine Weile, aber nicht mehr dauerhaft. Die Nepalesen ticken da einfach anders, die hocken halt immer zusammen. Ein Sohn bleibt das Leben lang bei seinen Eltern, denn er muss sich ja um sie kümmern, wenn sie ins Alter kommen. Man zieht nicht einfach mal so aus. Nepalesen kennen keine Privatsphäre, außer vielleicht auf dem Klo.

Ganz so nepalesisch bin ich nicht und werde es auch nie sein. Jetzt, wo ich auch einen einigermaßen stabilen Freundeskreis unter Einheimischen habe, vermisse ich es, abends einfach mal Leute einladen zu können – oder wegzugehen, ohne mir den Kopf zerbrechen zu müssen, dass das Tor offenbleibt oder ich mich dafür rechtfertigen muss. Aber der Wohnungsmarkt ist gar nicht so einfach, wie man denkt. Um so größer der Glücksgriff, den ich Navaraj zu verdanken habe, denn zwei Häuser weiter ist das Erdgeschoss freigeräumt worden. Die Vermieter sind ein niedliches älteres Ehepaar, das mit Sohn, Schwiegertochter und Enkel im ersten und zweiten Stock wohnen. Ich habe mein eigenes Tor, kann also kommen und gehen, wann ich will. Und es sind trotzdem nur ein paar Meter zum Haus rüber, sodass sich an meinem Tagesablauf rein gar nichts ändern muss. Das macht es auch schmerzfreier für die Kids, die eben von der oben genannten nepalesischen Mentalität geprägt sind, dass jemand von der Familie nicht einfach wegzieht. Ein paar gucken mich mit großen Augen an nach dem Motto: „Du ziehst aus? Hast du uns nicht mehr lieb?“ Das war schon so, als ich immer zu Rajesh rüber musste. Ich versichere ihnen: „Es ändert sich rein gar nichts. Ich bin morgens zur gewohnten Zeit hier, bin hier, wenn ihr aus der Schule kommt, helf euch bei den Hausaufgaben. Nur abends schlafe ich in einem anderen Haus.“ Das beschwichtigt die Gemüter. Und die Unabhängigkeit tut gut, muss ich sagen. Noch ist die Wohnung ein bisschen leer, aber das kommt mit der Zeit. Ich hab auch Platz, Gäste zu beherbergen. Just saying.


Ein Jahr älter

Meinen ersten Geburtstag hier im Lande begehe ich ebenfalls. Notgedrungen denke ich an die Geburtstage der vergangenen Jahre zurück und wie jeder für sich genommen etwas Besonderes war – dieses Jahr ist es nicht anders. Als ich morgens um halb sechs zur study time erscheine, noch völlig verschlafen, werde ich mit einem „HAPPY BIRTHDAY“-Gebrülle erwartet, wie ich es noch nie erlebt habe. Tagsüber nimmt sich Rajesh die Zeit, mit mir ein paar Möbel für die Wohnung zu kaufen, nachmittags hole ich dann die leckere Torte, die ich bei der Bro Bakery bestellt habe, (White Forest mit Blaubeer-Topping). Die Praktikanten überraschen mich mit einem Geschenk und einer lieben Karte, auf der alle Kinder unterschrieben haben. Abends gehen wir dann noch Essen, auch Ellen und Navaraj kommen mit, und später stößt mein Kumpel aus dem Nepalikurs mit seiner Frau dazu. Mit den Praktikanten geht es dann noch in den Rockclub Purple Haze, wo ich trotz Nichtalkoholkonsums alle Hemmungen beim Tanzen verliere. Das Schöne ist, dass die Nepalesen so leicht zu begeistern sind, und so lasse ich mich von ihnen feiern, verkünde fröhlich, dass ich heute 28 geworden bin, und lasse mich durch die Menge tragen, während auf der Bühne die Liveband tobt. Natürlich muss ich bereits gegen Mitternacht nach Hause, weil ich völlig fertig bin, wohingegen die anderen volunteers noch zwei Stunden länger bleiben. Aber ich muss es ja nicht übertreiben. Bin ja keine 28 mehr.

(Man beachte Janaks Grimassen im Hintergrund. Manche Faxen sind halt universal.)


Ein Jahr mehr Ben Uncle

Subash, mein Lieblings-Goofball
Subash, mein Lieblings-Goofball

Aber letztlich ist der Hauptfokus ein anderer – der Hauptgrund, weshalb ich überhaupt zurückgekommen bin: meine Kids. Hat sich meine Beziehung zu ihnen im vergangenen Jahr verändert? Haben sie sich überhaupt verändert? Gerade bei den Kleinen kann man im Vergleich natürlich Unterschiede erkennen, gerade auch wenn ich mir Fotos von vor zwei Jahren anschaue. Bei den Großen überkommt mich eher die Fassungslosigkeit, wenn ich bedenke, wer nun die 10. Klasse abgeschlossen hat und bald mit dem College oder der Berufsausbildung beginnt und wer entsprechend im kommenden Schuljahr in die 10. Klasse nachrückt. Manchmal sitze ich morgens oder nachmittags in der study time oder abends beim Essen und schaue mich ganz fasziniert um: Ich bin umgeben von so vielen tollen Menschen, die mir so unglaublich stark ans Herz gewachsen sind. Bei meinem Abschied 2015 habe ich über alle Großen ein paar persönliche Worte gesagt, die ich jetzt ins schier Unendliche erweitern könnte. Sind die Jungs teils schwierig und die Mädels zickig? Ist es eine Herausforderung, dass sie sich bei der study time alle konzentrieren und nicht herumalbern? Zoffen sich die Jungs beim Sport, sind die Mädels manchmal lustlos? Ja, ja und ja. Und dann springt mir Sudip abends vor dem Schlafengehen in die Arme und ruft nur „Ben Uncle!“, drückt mich feste, packt mein Gesicht und drückt mit einen Kuss auf die Stirn und verkriecht sich im Bett. Subash und ich albern herum, bis wir Bauchweh vom Gackern haben. Umesh schaut mich mit seinen großen braunen Augen an, fasst sich auf die linke Brust und ruft: „My heart is your heart!“ Ramesh und PK führen mir ihre neu einstudierten Tanzchoreographien vor. Auch die Mädchen sind viel zutraulicher geworden, suchen viel mehr den Kontakt, sprechen noch konsequenter Nepalesisch mit mir als die Jungs. Wenn ich nach dem Essen draußen meinen Teller abwasche, reißt ihn mir irgendjemand aus der Hand. „Uncle, I will do.“ Ich kann protestieren, wie ich will, sie wollen mich einfach auf diese Art verwöhnen. Allesamt.

Und ich weiß genau: Es gibt momentan nur einen Ort auf der Welt, wo ich hingehöre und daheim bin. Ich lebe den Traum, von dem ich früher gar nicht wusste, dass ich ihn habe.

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Kommentare: 4
  • #1

    Eva (Freitag, 07 April 2017 22:35)

    Einfach eine Freude dein Bericht, lieber Ben! Freut mich immer wieder riesig für dich, dass du deine Herzensheimat gefunden hast und dort leben und wirken darfst! :-) GLG Eva

  • #2

    Papa (Freitag, 07 April 2017 22:58)

    Du hast wirklich eine wunderbare Familie. Wir freuen uns für dich. Auch wenn die Sprache schwer ist, du wirst immer besser damit. Du bist zur Zeit am richtigen Ort. Wir danken dem Vater im Himmel für deine Talente und Gaben und deine Liebe Für die Kinder. Sie werden auch noch an dich denken, wenn sie erwachsen sind.
    In Liebe dein Papa

  • #3

    Bigyan Mani Dixit (Samstag, 08 April 2017 08:37)

    The article is very beautifully written and gives a peak to the society, how so different the things are but they are the truth we should embrace. !! Very nice work, or blog hope other foreigners can benifit form this documentary style article. !! Greetings !! Ben !!

  • #4

    Anna und Bärbel Kugler (Donnerstag, 27 April 2017 14:43)

    Lieber Ben, gerade sitze ich (Anna) am Tisch und klebe ein Fotoalbum mit Bildern über meine Zeit in Nepal, während Mama mir deinen Block vorliest. Sie ist ein rießen großer Fan von deinem Blog und wir waren beide so gerührt über deinen wundervollen Text und darüber dass das Kinderheim zu deinem zu Hause geworden ist. Du bist nicht nur für die Kinder unendlich wichtig, du wirst auch immer für alle Praktikanten der Papa-Schlumpf sein mit unendlich viel Erfahrung und Unterstützung, danke dass du immer für uns da warst und für die jetzigen Praktikanten da bist! Wir sind schon super gespannt auf deinen nächsten Blogeintrag!