Umschwung

Erstes gemeinsames Abendessen auswärts mit den neuen Praktikanten.
Erstes gemeinsames Abendessen auswärts mit den neuen Praktikanten.

Nach zwei relativ ruhigen Monaten mit einer überschaubaren Anzahl an volunteers brechen nun neue Zeiten an: Anfang August reist Ellen an und bringt eine regelrechte Horde an neuen Gesichtern mit: Innerhalb weniger Tage werden aus fünf Praktikanten dreizehn, weitere folgen im September und Oktober (auch wenn natürlich zwischenzeitig einige abreisen). Einerseits ist es für die Kids natürlich toll, so viele volunteers um sich zu haben, denn um so mehr da sind, um so größer die Chance, ein bisschen Einzelzeit mit einem zu ergattern. Aber eine große Gruppe bringt auch Herausforderungen mit sich – gerade wenn sie quasi auf einen Schlag anreist. Wenn mal zwischendurch jemand Neues ankommt, nimmt man ihn an die Hand und zeigt ihm nach und nach alles, dies hingegen bei so vielen zu bewerkstelligen, ist gar nicht so einfach. Immerhin ein Vorteil: Ein paar der Mädels sind schon etwas „älter“ (also Mitte 20 statt 18) und bringen gleich ganz andere Erfahrungswerte mit sich. Bei anderen sind Kulturschock und Heimweh vorprogrammiert, was man ihnen selbstverständlich nicht verübeln kann. Der strikte Tagesablauf (um 5:30 Uhr sitzt man angezogen bei den Kids) macht zu schaffen. Sich mit den Kids gut zu verstehen, ist nicht schwer, da sie es einem ja auch sehr leicht machen und mit offenen Armen empfangen – aber es geht ja nicht nur darum, ein paar Wochen lang den Kumpel zu spielen, sondern die volunteers haben in erster Linie eine erzieherische Funktion. Das ist, wie man dann merkt, nicht allen ganz klar.

Für mich heißt es nun auch, dass ich umziehen muss – Ellen stellt mir während ihrer Abwesenheit großzügigerweise ihr Zimmer zur Verfügung, nun ziehe ich für die kommenden sechs Wochen ins neue Haus, hoch ins volunteers-Apartment, und teile mir ein Zimmer mit Rajesh, von dem ich bereits berichtet habe. Ich habe gar nichts dagegen, mal wieder einen Zimmernachbarn zu haben, zumal ich mich mit Rajesh mittlerweile gut angefreundet habe. Außerdem ist das volunteers-Apartment wirklich nett, muss ich sagen, und auch wenn wir dort nun zu neunt wohnen, wirkt es nicht zu eng. Wir haben ja eine eigene Dachterrasse und wir bringen Bad und Küche ein bisschen auf Vordermann. So lebe ich mich schnell und problemlos ein.

Was bei einer großen Gruppe auf jeden Fall schön ist, sind die vielfältigen Talente, mit denen sich jeder einbringen kann. Gleich für den ersten Samstag plant Ellen eine Art Mini-Talentshow – es geht nicht darum, dass sich die neuen volunteers präsentieren, sondern dass sie anbieten und den Kids im Grunde vermitteln: Das können wir, das macht uns Spaß, kommt doch auf uns zu, wenn ihr mal Lust darauf habt! So hören wir Glenn, der ab Herbst eine Ausbildung zum Opernsänger macht, endlich zum ersten Mal singen, wozu wir ihn schon seit Wochen nötigen wollen. Aber auch die frisch Angereisten haben viel zu bieten und wir verbringen einen vergnügten Nachmittag und versetzen die Kids ins Staunen oder regen sie sogar gleich zum Mitmachen an (zumindest beim Einradfahren). Nur Ben Uncle lehnt sich zurück. Was der alles kann oder nicht, wissen die Kids ja nun inzwischen wirklich gut genug. :)

Anschließend verteilt Ellen einen riesigen Stapel Briefe, die ihr in den vergangenen Wochen von sämtlichen Patenfamilien und ehemaligen volunteers zugeschickt wurden. Zunächst dürfen die ganze Kleinen den großen Rucksack anziehen und schauen, ob sie damit überhaupt durch die Gegend laufen können, ehe das große Verteilen beginnt. Natürlich sind die Kids hellauf begeistert über die Post, aber gerade für die vielen neuen Kinder gibt es einen leicht fahlen Beigeschmack, denn sie müssen zusehen, wie andere einen Brief nach dem anderen erhalten und ihr eigener Name gar nicht aufgerufen wird. „I don’t get any letter“, teilt mir Bijesh traurig mit. „I don’t have any sponsors.“ „Not yet“, sage ich und spreche ihm Mut zu, dass sich das schnell ändert und nächstes Mal garantiert auch Post für ihn dabei ist. Am liebsten will ich ins Zimmer laufen und ihm kurz einen Brief schreiben, aber meine Hilfe beim Verteilen wird gebraucht. Um so glücklicher bin ich, als ich sehe, dass sein Name auf einem Umschlag steht. Gerade erst wurde ihm eine Patenfamilie zugeteilt! Als ich ihm den Brief in die Hand drücke und sehe, wie er strahlt, kommen mir fast die Tränen. So eine kleine Geste und doch eine solche Freude.

Ein paar Tage nach Ankunft der neuen Praktikanten findet Raksha Bandhan statt, bei dem traditionell das geschwisterliche Band gefeiert wird und durch ein buchstäbliches Band symbolisiert wird, das normalerweise die Schwester dem Bruder ums rechte Handgelenk bindet. Der Einfachheit halber übernimmt das Bändchenwickeln unser Hausmeister, der aufgrund seiner höheren Kaste dazu befugt ist. Außerdem erhält jeder von uns ein Tika auf die Stirn und ein paar Süßigkeiten (Zuckerbonbons, Kokosnuss und weiße Schokolade der Geschmacksrichtung Ziegenstall). Nach dem Ritual sitze ich mit Anton und Robert ungeduldig vor dem Speisesaal und wir warten trotz der Ehre, Teil des Ganzen gewesen zu sein, darauf, dass es endlich Dal Bhat gibt. Bis alle Kinder umwickelt sind und das Prozedere vorbei ist, vergeht viel Zeit, und wir haben doch Hunger. :)


Bye bye  …

Natürlich bedeuten neue volunteers zwangsläufig auch den Abschied von Praktikanten, deren Zeit um ist. Schmerzlich vermissen werden wir Mali, die zeitgleich zur Ankunft der Neuen abreist und in ihren Monaten wirklich hervorragende Arbeit geleistet hat, nicht zuletzt durch ihre künstlerische Hochbegabung. Ich bekomme sie sogar dazu, mir vor der Abreise noch ein zweites Mal ein cooles Henna-Tattoo zu malen.


Umschwung auf völliger andere Ebene

Ich berichte nicht sonderlich viel vom kirchlichen Leben, weil das ehrlich gesagt nicht im Mittelpunkt meiner Aufmerksamkeit steht, aber im Zweig in Kathmandu tun sich seit einigen Wochen ein paar Dinge, die nicht unerwähnt bleiben sollten. Nachdem sich die Mitglieder seit dem Erdbeben in einem Hotel getroffen haben, können sie sich nun endlich wieder in einem „Gemeindehaus“ treffen – bewusst in Anführungszeichen, denn eigentlich ist es ein Wohnhaus. Eine Baugenehmigung kann die Kirche aus rechtlichen Gründen derzeit nicht bekommen, daher muss man eben ein bisschen improvisieren. Meiner Meinung nach ein wenig zu protzig, denn der Zweig zieht in das ehemalige Wohnhaus eines schwerreichen Fabrikbesitzers, der in die Vereinigten Staaten ausgewandert ist. Ich gestehe, dass ich selbst in Deutschland noch keine solche Villa von innen gesehen habe – dass in Nepal überhaupt ein solcher Reichtum besteht, schockiert mich geradezu. Auch halte ich es nicht für notwendig, dass man derart prunkvoll auffahren muss (Kapelle mit Kronleuchter …), denn andere Mehrzweckräume wären mehr als passabel gewesen, aber gut. Die Mitglieder freuen sich sehr, und überhaupt gedeiht der Zweig momentan sehr: Allein im vergangenen Monat gab es sechs Taufen. Ich will mich auch gar nicht beklagen, denn das neue Gebäude ist für uns schnell zu erreichen und liegt nur eine Haltestelle weiter als das alte Gemeindehaus und zwei als das Hotel (wir sind also insgesamt von Tür zu Tür nur eine Viertelstunde unterwegs, was ja ein kürzerer Weg ist als der, den viele Mitglieder in Deutschland haben). Rajesh nimmt seine Schwester Roshila und seinen Neffen Narayan auf dem Motorrad mit; seine Geschwister Ramila und Janak nehmen wie ich den Bus. Ich wurde übrigens gebeten, morgens mit Ramila und Janak eine Art „Mini-Seminar“ durchzuführen. Da die beiden abgesehen von dem wöchentlichen Besuch in der Gemeinde keinerlei religiöse Bildung bekommen, wofür aufgrund des straffen Tagesablaufs auch nur wenig Zeit ist, kommen sie so in den Genuss, wenigstens einmal am Tag eine Viertelstunde lang gemeinsam kirchliche Literatur zu lesen und zu besprechen. Das bedeutet für mich, dass der Wecker statt 5:20 Uhr nun schon um 5:00 Uhr klingelt, aber die beiden freuen sich über diese Chance – und schaden wird’s mir sicherlich auch nicht. Wäre Narayan in dem Alter, wäre das alles weitaus schwieriger, denn der Kleine kann einfach nicht stillsitzen und sich nicht konzentrieren (aber ADHS ist hier natürlich ein nicht-existentes Konzept). Es ist fast ein Segen, wenn er im Gottesdienst auf meinem Arm einschläft. :)

Anbei ein paar Fotos vom neuen Gemeindehaus, klickt euch einfach durch.

Und apropos Narayan: Erwähnte ich je, dass der kleine Bengel mit Pausbäckchen, Hummeln in Hintern und seinen kleinen Segelöhrchen haargenau so aussieht wie ein Monchichi? :)
Und apropos Narayan: Erwähnte ich je, dass der kleine Bengel mit Pausbäckchen, Hummeln in Hintern und seinen kleinen Segelöhrchen haargenau so aussieht wie ein Monchichi? :)

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Kommentare: 1
  • #1

    Brusten (Donnerstag, 18 August 2016 20:30)

    Schön, wie alles weitergeht und dass du da bist und dich so wohl fühlst! Die Kinder haben ein Riesenglück, dass sie dich haben!!! Alles Liebe von Brusten