Ein Jahr danach

Es ist Baisakh 12, 2073 – ein Feiertag wurde eingeläutet, die Kinder haben schulfrei. Denn: Heute* vor einem Jahr erschütterte ein schweres Erdbeben der Stärke 7.8 das Land. Fast 9000 Menschen kamen ums Leben, über drei Millionen verloren ihr Zuhause, fast das gesamte Kulturgut Nepals wurde dem Erdboden gleich gemacht, zahlreiche Nachbeben folgten. Mittendrin 80 Kinder und neun volunteers. Keiner wusste so richtig, was eigentlich zu tun ist – Routine wurde von Chaos abgelöst, aber ein Grundprinzip, so klischeehaft es auch klingt, kristallisierte sich schnell heraus: Gemeinsam ist man stark und kann Undenkbares überstehen.

Doch wie sieht es ein Jahr später in Nepal aus? Inzwischen gab es viele weitere schlimme Erdbeben in aller Welt, die Nepal schnell aus den Medien verschwinden ließen. Erst vor fast zwei Wochen kam es in Myanmar zu einem Erdbeben der Stärke 6.9, das bis nach Kathmandu zu spüren war. Wie zügig schafft ein Entwicklungsland den Wiederaufbau nach einer solch schweren Katastrophe?

Was viele gar nicht wissen: Auf die Naturkatastrophe folgte eine schwere politische Krise. Seit Gründung der Republik vor acht Jahren haben die Parlamentarier um eine Verfassung gerungen und sich deshalb über die Parteien hinweg, aber auch innerparteilich, völlig zerstritten. Erfreulicherweise konnten sie sich nach der Naturkatastrophe plötzlich einigen und legten am 20. September eine Verfassung vor, für die im Parlament 85 % der Abgeordneten aus allen im

Parlament vertretenen Parteien stimmten. Die großen alten Demokratien wie Indien und USA können mit diesem Abstimmungsergebnis nicht mithalten, denn sie erhielten einstens jeweils nur 65 % bzw. 52 %. Diese Verfassung sollte Nepal Frieden und Fortschritt bringen. Jedoch gab es schon im Vorfeld vier Wochen lang Unruhen in dem im Süden an Indien grenzenden Terai, der fruchtbarsten und wasserreichsten Gegend des Landes, die nur 17 % der Gesamtfläche Nepals ausmacht, aber mit 51 % der dichtbesiedeltste Teil des Himalajastaates ist. Madhesis, die größte dort lebende Ethnie, und einige andere Gruppen fühlten sich in dem neuen Gesetzeswerk nicht genügend berücksichtigt. Diese Proteste verstärkten sich nach der Verkündigung der Verfassung und gipfelten in einem einseitigen Embargo durch Indien, das dem reinen Binnenland Nepal völlig unerwartet nur noch ganz unregelmäßig und spärlich Benzin, Diesel und Gas lieferte. Der große Bruder behauptete, die Sicherheit für die Lastwagen wäre wegen der Unruhen nicht mehr

gewährleistet. Indien verlangte eine sofortige Änderung von sieben Punkten in der neuen Verfassung des kleinen Nachbarn. Nepal sah darin verständlicherweise eine starke Einmischung in seine Innenpolitik.

Da die Menschen in Nepal mit Gas kochen und zwei Mal am Tag Reis essen, drohte vielen Hunger. Sofern Gas überhaupt erhältlich war, dann nur zu dem doppelten Preis.  Mangels Benzin und Gas für Schulbusse und Schulküchen mussten in Kathmandu viele Schulen drei Tage vor den offiziellen Ferien zu Dashain (Anfang Oktober), dem größten

religiösen Fest in Nepal, schließen. Sowohl im Stadt- als auch im Überlandverkehr wurde die Zahl der Busse um etwa die Hälfte reduziert. Darüber hinaus wurden auch Diesel und Benzin für Motorräder auf 3 Liter, Autos auf 5 Liter und Taxis auf 10 Liter pro Woche rationiert. Findige Busfahrer und Mitreisende aus Kathmandu in den Süden besorgten sich nachts hinter der indischen Grenze kanisterweise Benzin, das dann auf der Rückfahrt ihr Reisegepäck darstellte. Das ging so lange gut, bis ein Brand ausbrach, der einige Tote und Verletzte zur Folge hatte. Die Kraftstoffkrise zwang auch Betriebe und Fabriken, ihre Produktion einzustellen. Dazu kam noch, dass etwa im Nahrungsmittelbereich tausende Liter Milch täglich vernichtet werden mussten, weil sie nicht verarbeitet werden konnten.

Inzwischen ist die Blockade aufgehoben – sie endete genauso willkürlich wie sie auch begann. Gasknappheit herrscht jedoch nach wie vor. Das wesentliche Problem ist, dass der Wiederaufbau des Landes nach dem Erdbeben eigentlich jetzt erst beginnt – erst jetzt fängt die Regierung an, Gelder zu verteilen, erst jetzt können die großen Organisationen überhaupt effizient helfen, denn bislang waren die bürokratischen Hürden einfach zu groß. Viele Menschen mussten also sich selbst helfen und eigens neue Hütten und Häuser bauen, aber Hilfe von der Regierung können sie nun kaum noch erwarten, weil nur noch in erdbebensicher gebaute Häuser investiert werden soll, und wer hat den Menschen auf dem Land schon beigebracht, wie sie die Bauweise ihrer Häuser verbessern können? Nepals Chance, aus der schlimmen Katastrophe etwas Positives zu ziehen und dem Land Fortschritt zu bringen, schwindet langsam dahin.

Gibt es überhaupt Hoffnung? Wohl zumindest in einem Bereich: Wird die Jugend gestärkt und gebildet, steht dem Land eine bessere Zukunft bevor. Und das ist ja letzten Endes das, worum Einrichtungen wie das Haus der Hoffnung bemüht sind. Ursprünglich sollten dieses Jahr keine neuen Kinder aufgenommen werden, weil viele Gelder in die Erdbebenhilfe flossen und hinzu kommen derzeit die Kosten für den Anbau am neuen Haus plus Möblierung. Aber da viel Platz da ist und die Not so groß, konnte Ellen Dietrich gar nicht anders.

* Laut unserer Zeitrechnung hat das Erdbeben am 25. April stattgefunden, also wäre der Gedenktag erst morgen, aber im nepalesischen Kalender gibt es keine Schaltjahre.

Zuwachs: Ishita, Namrata, Narayan, Nikita, Rashila, Ramila, Janak, Bishal, Dorchi, Rohan, Prabin (von links unten in der Mitte einmal im Uhrzeigersinn); Cluster in der Mitte: Prakriti, links unter ihr Saugat mit Parash im Arm, rechts davon Milan
Zuwachs: Ishita, Namrata, Narayan, Nikita, Rashila, Ramila, Janak, Bishal, Dorchi, Rohan, Prabin (von links unten in der Mitte einmal im Uhrzeigersinn); Cluster in der Mitte: Prakriti, links unter ihr Saugat mit Parash im Arm, rechts davon Milan

In den vergangenen beiden Wochen sind sage und schreibe 14 neue Kinder zu uns gestoßen, weitere sind geplant. Und es müssen nicht nur neue Namen auswendig gelernt werden – jedes Kind bringt schließlich „sich selbst“ mit, die eigene Persönlichkeit, die in der Gruppendynamik untergebracht werden muss, und natürlich eine eigene Geschichte. Westliche Berufstätige im erzieherischen Bereich würden die Hände über dem Kopf zusammenschlagen, wie die „Eingewöhnung“ ausschaut. Ich selbst habe ein paar Jahre in einer Krabbelstube gejobbt und miterlebt, wie individuell auf den Neuling eingegangen wurde. So dauerte die Eingewöhnung bei manchen eben nur zwei Wochen, bei anderen doppelt oder dreifach so lange, je nachdem, wie einfach oder schwer dem Kind es fiel, loszulassen.

Ich werde wohl mein Leben lang nicht vergessen können, wie der Abschied des kleinen Parashs von seiner Mutter aussah. Sie kam, redete mit Ellen, setzte das Kind ab und schritt aus dem Tor. Erst wurden Parashs Augen groß und als er dann schließlich begriff, was da vor sich ging, begann er, wie am Spieß zu schreien. Ihn zu beruhigen, war gar nicht möglich. Mir wurde ganz anders und ich war selbst den Tränen nahe. Aber so läuft das hier eben – und jetzt, nach nur ein paar Tagen, läuft der kleine Kerl glücklicherweise munter durch die Gegend und lässt sich von sämtlichen Mädchen herumtragen und von vorn bis hinten bemuttern –  und auch ich bin schon völlig vernarrt in die kleine Schnotternase. Parashs Vater war als Busfahrer tätig und verschwand vor zwei Jahren spurlos. Während des Erdbebens befanden sich Parash und seine Mutter im Dorf. Der arme Kleine wurde unter Trümmern begraben und wie durch ein Wunder von einem Ausländer gefunden, der ihn ins Krankenhaus brachte und sogar adoptieren wollte, was die Mutter jedoch ablehnte. Diese ist allerdings völlig mittellos, verkauft auf der Straße ein wenig Gemüse, das sie auf einer Plastikplane drapiert, und möchte am liebsten heiraten oder ins Ausland gehen und Geld verdienen. Ein Kind ist ihr dabei nur im Weg.

Beim ersten Anblick der Schwestern Nikita und Namrata (ca. 8 und 6 Jahre) war ich etwas erschrocken. Die zwei sind nicht nur verwahrlost und spindeldürr, sondern waren nicht einmal imstande, ein Lächeln über die Lippen zu bringen. Ihr Vater befindet sich seit drei Jahren im Gefängnis – er hat ein junges Mädchen vergewaltigt und muss nun die lebenslange Haftstrafe von 25 Jahren absitzen (an seinen Töchtern hat er sich glücklicherweise nicht vergangen). Nach der Gräueltat ist die Mutter verschwunden, und um die beiden Mädchen kümmerte sich die Großmutter, wozu sie aber weder die Kraft noch die Mittel hat. Nikita und Namrata sind bislang auf eine staatliche Schule gegangen und sprechen kein Englisch. Ich bin erstaunt und berührt, was nur ein paar Tage inmitten der fröhlichen Kinderschar ausmachen (und natürlich geregelte, reichhaltige Mahlzeiten, bei denen sie immer satt werden). Heute habe ich Nikita bei ihrem Namen angesprochen, ihr vorsichtig über den Kopf gestrichen und sie angelächelt, und sie hat mir ein schüchternes, aber herzliches Lächeln zurückgeschenkt. Es wird noch dauern, bis alle Wunden geheilt sind, aber ein sicheres Umfeld wie hier ist der erste wichtige Schritt.

Dorchi ist das fünfte von sechs Kindern. Er wurde vor einiger Zeit von einem nepalesischen Journalisten in Ostnepal gefunden: Dorchis Vater ist vor fünf Jahren gestorben. Die Bestattung mit den dazugehörigen Riten und Feierlichkeiten ist hierzulande teuer, und die Mutter musste einen Kredit von umgerechnet 600 Euro auf sich nehmen, eine horrende Summe in Nepal. Der Mann, der ihr das Geld lieh, ließ Dorchi das Geld abarbeiten. Der Journalist brachte den Jungen nach Kathmandu, und die Schule, auf der er bis vor kurzem gegangen ist, ließ ihn dort ein Jahr kostenlos verweilen – doch damit ist es jetzt vorbei. Eine andere Schule zu finden, die die Kosten übernimmt, ist illusorisch. Der Verein wurde im Hilfe gebeten und schritt zur Tat.

Und die Geschichten gehen weiter: Milans Vater ist vor acht Monaten nach schweren Alkoholproblemen gestorben – der Straßenarbeiter hatte sich überall, wo größere Projekte anstanden, eine Frau angelacht und war zur gleichen Zeit mit insgesamt vier Frauen verheiratet, die alle inzwischen ein Kind von ihm haben. Prabins Mutter wurde von ihrem Mann verlassen und hat eine gute Anstellung in Indien gefunden, kann das Kind aber nicht mitnehmen. Rohans Vater ist an Gelbsucht gestorben und lebte mit seiner Mutter in einer Hütte auf dem Grundstück unseres neuen Hauses – als er sah, wie die Kinder dort Tanzunterricht hatten, äußerte er von selbst den Wunsch, in die Einrichtung aufgenommen zu werden. Er hat sich sofort eingelebt und fühlt sich pudelwohl. Die Geschwister Ramila, Janak und Rashila und ihr Neffe Narayan sind vom Verein bereits finanziell unterstützt worden – wie auch ein paar der anderen Kids. Für den Verein ist es im Grunde günstiger, wenn die Kinder auch in den Häusern wohnen und nicht extra Wohnkosten bezahlt werden müssen. Rajesh, der ältere Bruder von Ramila, Janak und Rashila, wurde mit 12 Jahren (!) von seinen Eltern nach Kathmandu geschickt, weil sie ihn als alt genug erachteten, nun sein Leben allein in die Hand zu nehmen. Mit unzähligen Jobs jeglicher Art hielt er sich über Wasser, bis er ein dänisches Ehepaar kennenlernte, das sich seiner annahm und ihn förderte. Als die Eltern mitbekamen, wie gut es ihm geht, schickten sie ihm seine drei Geschwister und den Neffen nach. Er hat sich um die drei (und auch um Narayan) rührend gekümmert, aber einfach nicht das Geld, für sie zu sorgen.

Weshalb ich mir die Zeit nehme und von diesen Schicksalen berichte, hat einen ganz praktischen Grund: Neue Kinder bedeuten, dass neue Paten gebraucht werden, und zwar dringend. Überlegt euch doch, ob ihr 30 Euro im Monat aufwenden könnt, die dazu beitragen, dass die Kids der Misere dauerhaft entfliehen können und eine Zukunft haben. Falls das nicht möglich ist, kennt ihr vielleicht jemanden, der dazu imstande wäre. Und falls ja, dann handelt doch gleich, ehe der Gedanke wieder verschwindet – schreibt mir oder wendet euch direkt an den Verein. Ich wünschte, ich könnte überhaupt adäquat in Worte fassen, welch ungeheure Liebe und Dankbarkeit die Kleinen und die Großen hier ausstrahlen. Wie sehr sie diese Chance verdienen. Sie bilden die Zukunft eines Landes, dem es ohnehin schon schlecht ging, aber das durch die Geschehnisse im vergangenen Jahr noch mehr erleiden musste.

Heute vor einem Jahr war einer der schlimmsten, beängstigendsten und emotional forderndsten Tage meines Lebens. Aber wie schon damals lehren mich die Nepalesen auch heute noch: Der Blick ist nach vorne zu richten, nicht zurück. Und mit der Liebe, die ich hier empfange, ist das auch gar nicht anders möglich.

„A child has a special way of adding joy to everything.“
„A child has a special way of adding joy to everything.“

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Kommentare: 1
  • #1

    Tiny (Sonntag, 24 April 2016 17:28)

    Ach Ben, die Kids können sich einfach glücklich schätzen dich und die anderen zu haben. Das sie so die Liebe und Zuneigung erhalten die sie verdienen.
    Auch wenn bei euch die “Eingewöhnung“ nicht so optimal ist. Ist sie mit der Liebe die ihr Ihnen gebt besser als das wo sie waren.
    DU/Ihr macht eine tolle Arbeit. :-*
    HDL