Die Erde bebt

Ich werde in diesem Beitrag auf Fotos verzichten. Ich habe ein paar Bilder von den Trümmern geschossen, aber ihr habt in den Medien vermutlich schon mehr gesehen als wir. Ich erhoffe mir durch diesen Beitrag nur, dass ihr ein wenig mein Innenleben in so einer unerwarteten Krisensituation und die allgemeine Stimmung vor Ort nachvollziehen könnt.


Eigentlich ist dieser Tag wie jeder andere – und nicht nur das: Es ist Samstag. Die Kids haben schulfrei, und ich freue mich auf Sportaktivitäten mit ihnen, außerdem wollen wir an dem Mini-Theaterstück weiterarbeiten. Die morgendliche Lernsession ist allerdings etwas anstrengender als sonst. Ich hab ja schon davon berichtet, dass Navaraj ein typisches ADHS-Kind ist mit enormen Konzentrationsschwierigkeiten. Aber einmal abgesehen davon, dass ich ohnehin nicht so recht weiß, wie ich ihm da am besten helfen kann außer mit viel Geduld und abwechslungsreichen Übungen, nutzt es in Bezug auf das nepalesische Schulsystem sowieso nichts: Er muss denselben Stoff lernen wie die anderen auch. Aber er tut sich schwer damit, heute ganz besonders. Kaum eine Minute vergeht, wo ihm nicht etwas einfällt, was wichtiger wäre als Lernen, beispielsweise irgendwelche Gegenstände greifen und damit spielen. Als ich ihm eine kleine Kette wegnehme, ist er schon ziemlich beleidigt und setzt sich (mit dem Rücken zu Pia und mir) in eine Ecke. Dort geht das Spielen letzten Endes munter weiter, und irgendwann packe ich seinen Rucksack und verkünde ihm, dass er sich jetzt nach unten zu den anderen setzt. Er sträubt sich mit aller Macht, tickt auch ein wenig aus, ich versuche ruhig, aber bestimmt zu bleiben. „You go yourself or I carry you!“, ist mein nächstes Ultimatum. Da flippt er noch mehr aus. Ich drücke ihm sein Nepali-Buch in die Hand. „We will sit down and you will read to me, you understand?“, sage ich. Ich werde natürlich kein Wort verstehen, aber so weiß ich, dass er den Stoff immerhin durchgeht. Nun gut, also setzt er sich auf den Boden, ist aber bitterböse mit mir. Nicht das erste Mal. Ich weiß auch, dass er sich normalerweise schnell wieder fängt. „Iʼm strict because I love you, okay?“, sage ich. „I donʼt talk to you anymore“, ist seine übliche Reaktion. Ich denk mir nichts dabei. Ist ja schließlich ein Tag wie jeder andere.


Leo und Gwen machen sich auf den Weg zu einem Elektro-Festival, wir übrigen fahren in die Stadt zum Farmerʼs Market – ein gemütlicher kleiner Markt, der sehr auf Europäer abzielt und einfach leckere Spezialitäten anbietet, die man sonst kaum in Kathmandu bekommt, nach denen es aber nach all dem Dal Bhat eben manchmal gelüstet, etwa frisches Brot nach deutschem Standard und Käse. Wir lassen es uns dort richtig gut gehen, machen noch einen Abstecher ins Himalaya Java Café, da wir ohnehin davon ausgehen, dass die Kids nach dem Frühstück fernsehen werden. Wir kommen gegen 11 Uhr vormittags zurück. Ich setze mich an den PC ins Zimmer neben dem TV room, weil ich ein wenig arbeiten möchte, und bin immer noch beglückt von dem überbackenen Käse-Bacon-Croissant. Ein Tag wie jeder andere.


Das Rütteln beginnt so unmerklich und leise, dass ich eigentlich gar nicht checke, was passiert. Erst als nebenan die ersten Panikschreie kommen und neben mir das erste Bild vom Regal kracht, springe ich auf und sprinte durch die Tür. Hinter mir kracht ein Bücherregal um. „Get out of the house!“, rufe ich. Ein paar sind schon unten. Die Mädchen vor mir stehen wir paralysiert im Zimmer und im Treppenhaus. Wir müssen sofort hier raus. Wir müssen sofort auf den Bolzplatz!, ist nur alles, was ich denke. Wie lange das Beben anhält, kann ich nicht genau sagen – die meisten meinen, es wäre etwa 60 bis 90 Sekunden lang gewesen. Mag hinkommen. Mit dem Adrenalinschub und dem Gefühl, einer Macht ausgesetzt zu sein, gegen die man absolut hilflos ist, verliert man jegliches Zeitgefühl. Die Mädchen fallen teilweise zu Boden, ich selbst kann mich ebenfalls kaum halten. Irgendwie gelingt es uns aber, nach unten zu laufen. Die didis stehen weinend und wehklagend im Hof. Direkt vor dem Tor ist eine Mauer auf den Gehweg gestürzt. Ich bin nur froh, dass endlich alle unten sind und vom Beben nichts zu spüren ist. Oder doch? Nein, es sind nur meine Beine, die noch wackelig sind. Alle Kids sind auf dem Bolzplatz. Nina und Pia sind (verständlicherweise) in Tränen aufgelöst. „Geht es allen gut?“, frage ich so gefasst wie möglich. Ja, niemandem ist etwas passiert. Alle sind hier.


Da geht es wieder los. Wir kauern uns auf den Boden, aus allen Himmelsrichtungen sind Aufschreie zu vernehmen. Diesmal dauert das Beben nicht sonderlich lange, aber der Adrenalinschub ist der gleiche. Tausend Gedanken kommen mir: Zum Glück ist heute schulfrei und wir sind zusammen. Zum Glück sind wir schon aus der Stadt zurück. Vater im Himmel, bitte lass das Haus nicht einstürzen … Die Kids haben doch schon nichts, nur ein Bett und zwei warme Mahlzeiten am Tag … nimm ihnen doch bitte nicht das Wenige, was sie besitzen … Wir schauen uns um: Ein paar Häuser in der Gegend haben Risse. Unseres ist davon verschont geblieben. Ich muss dazu sagen, dass die Gegend ohnehin etwas gehobener ist (für Kathmandu-Verhältnisse) und die Häuser alle relativ stabil wirken. Aber nicht weit entfernt steht ein gewaltiger Hotelkomplex, das Horizon. Auf dem Weg nach Gongabu meinte Ellen mal zu mir: „Ich würde da nie schlafen und auch nie Freunde von mir einquartieren. Ist schließlich ein erdbebengefährdetes Gebiet und das Teil da ist sicher nicht erdbebensicher.“ An allen Fassaden bröckelt es gewaltig. Scheiße, was ist, wenn das einstürzt, denke ich. Hoffentlich ist es schon evakuiert … Aber die Häuser drum herum würden ebenfalls restlos zerstört werden – und all diese Menschen, die ohnehin eigentlich nichts haben, verlieren das letzte Bisschen. Wir hocken inzwischen alle gemeinsam auf dem Boden des Bolzplatzes, viele Nachbarn strömen dazu. Ich bin noch imstande, meinen ersten Facebook-Post zu machen, ehe Internet und Telefonnetz zusammenbrechen. Wir wissen nichts. Wir wissen nicht, wie stark das Beben war, wie es im übrigen Stadtgebiet aussieht, wie viele Menschen ums Leben gekommen sind. Wir sitzen einfach da und warten. Schließlich bekommt der große Navaraj über sein Handy eine Radioverbindung hin. In der Innenstadt muss es gräulich aussehen. Der weiße Turm am Rathna-Park, dessen Foto ich in einem anderen Blog-Beitrag gepostet habe und auf den ich unbedingt noch wollte, soll eingestürzt und fünf Menschen in den Tod gerissen haben. Aber mir ist da schon klar, dass das erst der Anfang ist. Zwischendurch geht das Internet immer mal wieder kurz. Alle Tempelanlagen sind zerstört. Das Kulturgut der Stadt! Ich schicke Stoßgebete zum Himmel, bin aber gleichzeitig dankbar, dass wir alle zusammen sind. Und unverletzt.


„I miss my family“, sagt Dinesh plötzlich, der sich von links an mich gekuschelt hat. Es ist das erste Mal, dass ich fast dabei bin, meine Fassung zu verlieren. „I know“, sage ich und lege meinen Arm um ihn. „But you know what? One day you will have your own family. You will have a beautiful wife and beautiful children and you will be the best father in the world. And you will be together forever.“ Was Gescheiteres fällt mir nicht ein. Weitere Nachbeben setzen ein. Es ist nur ein kurzes Rütteln und nicht sonderlich heftig. Aber das Herzrasen setzt sofort ein. Es ist die Ungewissheit, die einem zu schaffen macht – denn das erste, heftige Beben begann schließlich auch ruhig. Es ist auch die Ungewissheit, wann und ob das nächste kommt. Nina und Anna wollen am Montag eigentlich nach Thailand abreisen. Wird das überhaupt möglich sein? Wie geht es Leo und Gwen? Und den Kids in Gongabu?


Pia holt irgendwann eine Packung M&Ms. Schokolade beruhigt schließlich immer. Alle Kids dürfen jeweils zwei nehmen. Es ist nichts und doch so viel, und die Stimmung hebt sich gleich. Als Ramesh mir von seinen beiden kleinen Schokokugeln fast wie selbstverständlich eine in den Mund steckt, kommen mir das erste Mal die Tränen. Ich versuche, sie so gut wie möglich zu unterdrücken, aber ich merke, dass ich innerlich so unruhig bin, einfach weil ich nicht weiß, wie es weitergeht, und auf der anderen Seite eigentlich gar nicht irgendwo anders auf der Welt sein will als hier bei den Kids.


Als schließlich die Wolkendecke aufreißt und die pralle Sonne auf uns herabscheint und seit einiger Zeit kein Beben mehr zu spüren ist, werden alle entspannter. Wir lenken uns ab und spielen Volleyball, und ich merke, wie ich selbst auch viel ruhiger werde. Leo kommt zurück – das Festival findet nicht mehr statt, was mich auch gewundert hätte. Vorsichtig werden im Haus ein paar Schäden behoben, also Scherben aufgesammelt und so weiter. Aber wir halten uns konsequent draußen auf. Der Bolzplatz ist groß und eigentlich sind wir hier (falls nicht die Erde aufreißen sollte) sicher.


Mit Nina und Anna gehe ich schließlich runter nach Gongabu. Auch dort sind alle wohlauf. Das Haus hat ein paar Risse abbekommen, was laut Navaraj jedoch nicht so schlimm sein soll. Die Kleinen sind relativ ruhig. Louisa hingegen ist fix und fertig – sie hat erfahren, dass ein Freund aus Kathmandu gerade all sein Hab und Gut verloren hat. Auch von Nadine, die mit ihren Brüdern trekken ist, wissen wir nichts. Louisa erzählt, dass der Musiklehrer gerade da war, als das Beben begann, und einfach rausgerannt, sich unter Louisas Bett versteckt und die Gruppe von 15 Kindern allein zurückgelassen hat.


Der Weg nach und von Gongabu ist gekennzeichnet von eingestürzten Mauern, rissigen Straßen. Hier und da ist ein Gebäude kollabiert. (Zum Glück kein Vergleich zu den Schreckensbildern in den Medien.) Auf dem Rückweg spreche ich mit den Kids aus meiner Desinfektionsgel-Gang. Ein weiteres Beben ist angekündigt, erklären sie mir, und zwar für nachts. Die Familie des einen Jungen räumt die Garage leer, die voller großer Gasflaschen ist, die bei dem Beben alle umgestürzt sind. Glücklicherweise keine Explosion. Bei der Menge hätte das die ganze Nachbarschaft zerstört.


Wieder daheim, wird der Plan für die Nacht bekanntgegeben: Wir schlafen zur Sicherheit draußen. Wir volunteers holen alles, was wir an halbwegs wärmeren Klamotten und Jacken haben und decken die Kids damit ein. Auch Schlafsäcke und Isomatten werden geholt. Die Mehrheit schläft unten auf dem Bolzplatz, ich ziehe mich nach oben auf den Hof unter dem Wellblech zurück. Der große Umesh (nicht Rameshs Bruder) ist nämlich an Gelbsucht erkrankt, und es geht ihm total elend, dem Armen. Ich hole meine Luftmatratze und bette ihn darauf, damit er wenigstens komfortabel schlafen kann. Dann hole ich meinen Laptop und schaue mit ein paar Jungs einen Film und lasse sie anschließend mit meinem Handy spielen. Alles Dinge, die ich bislang strikt vermieden habe, aber mir ist jede Ablenkung wichtig, und so sind sie gut drauf und haben Spaß. Irgendwann schmiegen wir uns dann auf dem harten Boden unter wenigen Decken aneinander – Kamal, Indra, J.P., Himal, Dinesh und ich. Neben uns Umesh. Die Jungs erzählen mir ein paar Witze. Es wird spät, und auch wenn ich geglaubt habe, in dieser Nacht kein Auge zudrücken zu können, merke ich, wie mich die Müdigkeit langsam überkommt. Eigentlich sollte ich die Rolle des „Beschützers“ übernehmen und Furchtlosigkeit ausstrahlen, aber wie ich hier so daliege, Himal sein Gesicht in meinem linken Arm vergräbt und J.P. seins in meinem rechten, spüre ich, wie das Zusammensein mit den Jungs auch mich beruhigt. Ich beschließe, dem Schlaf eine Chance zu geben. Da beginnt es zu regnen.


Innerhalb kürzester Zeit kommen die übrigen Kids hoch. Der Großteil verkriecht sich zu uns unters Wellblech, ein paar auch vor den Hauseingang. Eng ist gar kein Ausdruck mehr, aber irgendwie geht es, und irgendwie finde ich ab und zu ein wenig Schlaf. Ich wache einmal kurz von einem Beben auf, aber es ist wie schon am Nachmittag nur sehr kurz. Das große Nachbeben in der Nacht, das befürchtet wurde, setzt also nicht ein.


Dafür jedoch der Notstand, wie wir dann morgens erfahren. Es besteht Angst vor Beben noch über die kommenden fünf Tage. Nina und Anna können ihre Abreise wohl fürs Erste knicken – der Flughafen scheint ohnehin große Schäden genommen zu haben. Die Zahl der Toten steigt immer weiter. Ich habe buchstäblich keine Ahnung, wie es mit Nahrung und Trinkwasser aussehen wird. Wir haben alle noch Tabletten, mit denen wir das Leitungswasser trinkbar machen können, aber wie lange die bei all den Leuten halten, wissen wir nicht. Nichtsdestotrotz herrscht keine bedrückende Stimmung unter den Kids, was mir am wichtigsten ist. Die kühle Nacht ist ausgestanden und allen geht es gut. Die meisten konnten ein wenig Ruhe finden.


Schon früh am Morgen brechen Telefonnetz und Internet komplett zusammen. Ich bin froh, dass ich noch kurz einen weiteren FB-Post machen kann, denn dann ist erst einmal alles tot. Was auch bedeutet, dass wir abgeschnitten sind. Wir erfahren, dass das Haus unserer zwei Schützlinge Ramesh und Umesh wohl komplett eingestürzt ist, es der Familie aber wohl immerhin gut geht. Die allgemeine Hilflosigkeit führt zu Spannungen. Um den Bolzplatz haben sich viele Nachbarn mit Zelten niedergelassen, und als ich mit den Jungs Volleyball spiele, steht irgendwann ein älterer Mann auf und brüllt uns zusammen, wir würden alle stören. Ich ticke fast aus und Sachin und Sujan halten mich beide fest und gehen mit mir vom Platz. „Itʼs okay“, versucht mich Sachin zu beruhigen. „Heʼs just an angry old man.“ Er hat ja recht. Wahrscheinlich ist es auch die eigene innere Spannung, die mich gerade explodieren lässt. Es ist auch schwachsinnig, wenn wir jetzt noch gegeneinander angehen, schließlich sitzen wir alle im selben Boot.


Der Tag zieht sich mühselig dahin. Mittags wird im Radio bekanntgegeben, dass ein weiteres Erdbeben erwartet wird, diesmal Stärke 9. Das verbreitet natürlich erst einmal allgemeine Panik. Wir volunteers haben das Gefühl, dass es genau das ist – Panikmacherei. Aber natürlich dürfen wir solche Meldungen nicht einfach ignorieren. Also ziehen wir wieder allesamt auf den Sportplatz, es wird jetzt schon beschlossen, dass die nächste Nacht wieder im Freien verbracht wird. Weil die vergangene Nacht für alle anstrengend war, schlafen viele Kids tagsüber. Gespielt wird kaum. Nur herumgesessen und gewartet auf den Sturm, der nicht kommt. Das heftigste Nachbeben weilt nur ein paar wenige Sekunden.


Anna und Nina erfahren, dass der Flugverkehr zu Normalität zurückgekehrt ist. Sie kämpfen aber mit sich selbst – denn für die beiden geht es nicht zurück nach Deutschland, sondern in einen mehrwöchigen Urlaub in Thailand. Sie wissen nicht, ob sie selbst damit klarkommen können, eine Krisensituation wie diese zu verlassen, um dann Urlaub zu machen. Aber was wäre wirklich die Alternative? Das Ganze einfach kippen? Einen guten Ratschlag habe ich auch nicht. Annas Eltern sind besorgt, dass nach dem Beben nun Seuchen kommen, denen wir vielleicht auch ausgesetzt sind. Auch Ellen schreibt mir, dass sie vollstes Verständnis hätte, wenn ein Praktikant abbricht. Ich habe aber nicht den Eindruck, dass das jemand will. Eher im Gegenteil – dass wir zur rechten Zeit am rechten Ort sind und helfen können.


Die zweite Nacht verbringe ich mit ein paar Jungs in der Bibliothek, einem winzigen Gebäude auf dem Hof. Ich persönlich bin der Meinung, dass alle auch wieder im Haus schlafen könnten, aber die allgemeine Angst unter den Kids und der Heimleitung ist noch zu groß. Ich habe mich inzwischen an die Nachbeben sogar so gewöhnt, dass ich erst einmal kurz abwarte, wenn es zu Ruckeln beginnt, und nicht gleich nach draußen stürme. Nachts gibt es zwei kleine Beben – Kamal schlägt mir beide Male panisch auf die Beine. „Uncle, uncle!“, ruft er. „Itʼs okay, just a small one“, versichere ich ihm, und es hört auch schon wieder auf. (Fast schon witzig: Während ich diesen Satz schreibe, folgt das nächste. Aber auch nur eine 3-sekündige Vibration.) Der Boden in der Bibliothek ist nicht gemütlicher als der Boden auf dem Hof, aber wir alle finden Ruhe. Ich bin froh, dass wir alle rechtzeitig das Sportfeld verlassen haben, denn später am Abend regnet es ziemlich heftig und gewittert sogar. Bei jedem Donnerschlag fragen wir uns, ob der Lärm vom Himmel oder von der Erde kommt.


Morgens sind die Brüder Ramesh und Umesh zurück. Ich habe die beiden nur einen Tag nicht gesehen und falle ihnen trotzdem um den Hals. „Iʼm so happy youʼre back“, sage ich nur und möchte mir gar nicht vorstellen, wie es ihnen gehen mag, nun da ihr Haus zerstört ist. Ich freue mich, dass beide dazu imstande sind zu lächeln und zu lachen. Von Nadine weiß immer noch niemand was, und wir sind in größter Sorge, denn gerade die Bergregionen soll es ja gewaltig erwischt haben.


Überwältigt bin ich von der Anteilnahme über Facebook. Vielleicht ist es für viele tatsächlich etwas ganz anderes, mit solchen Erdbebennachrichten umzugehen, wenn sie wissen, dass jemand, den sie kennen, mitten im Geschehen ist. Mich berühren die vielen Nachrichten, die vielen Zusicherungen um Gebete.


Die Kleinen aus Gongabu kommen hoch nach Dhapasi. Unten funktioniert der Strom nicht mehr, und im Grunde ist hier ja auch genügend Platz. So können sich auch die Großen um die Kleinen kümmern, auch sind ein paar leibliche Geschwister wieder vereint, was ebenfalls nicht schaden kann. Die Kinder beschäftigen sich gut miteinander und sind fröhlich. Die Nachbeben, die in immer selteneren Abständen kommen und glücklicherweise auch nur ein paar Sekunden lang sind, sorgen im ersten Augenblick für einen kleinen Schrecken, sind dann jedoch gleich wieder vergessen. Nachmittags kommt die erlösende Nachricht, dass es Nadine und ihren Brüdern gut geht und sie in Sicherheit sind. Sie sitzen im Gebirge fest und können weder hoch noch runter, sollen aber bald mit dem Helikopter herausgeholt werden. Dafür haben wir leider ein neues Sorgenkind: den großen Umesh, dessen Zustand sich einfach nicht bessern will. Trotz seiner dunklen Haut wirkt er regelrecht bleich. Er war schon immer dünn und scheint nun nur noch Haut und Knochen zu sein, weil er nichts mehr essen mag. Er siecht förmlich vor sich hin, hustet viel, kann sich nicht mehr selbst auf den Beinen halten. Wir volunteers bekommen mit, wie er mit pflanzlichen Mitteln versorgt wird, aber wir befürchten, dass das nicht reicht. Nur wie sollen wir vorgehen? Die Krankenhäuser sind doch bestimmt völlig überfüllt. Andererseits gefällt mir der Gedanke, einfach abzuwarten, auch nicht.


Nahrung und Trinkwasser haben sich für uns persönlich zum Glück noch nicht zum akuten Problem entwickelt, aber wir machen uns natürlich Sorgen. Gleichzeitig muss ich gestehen, dass ich trotz aller Umstände von einer grundsätzlichen Ruhe erfüllt bin. Vielleicht sind das wirklich die vielen Gebete, die um unserer willen gesprochen werden. Auch gelingt es uns volunteers, einander zu stärken. Anna und Nina bleiben nun definitiv hier und fliegen in zehn Tagen heim. Pia hat ihren Flug umgebucht und wird Nepal mit ihnen gemeinsam verlassen.


Da Regengüsse befürchtet werden, wir das Zeltlager auf dem Bolzplatz verstärkt. Wir graben Rinnen ringsherum, wo das Wasser dann hoffentlich versickert. Als wir uns zur Nachtruhe begeben, sind wir im Grunde ein großer Menschenhaufen quer über und untereinander, aber es ist kuschelig und warm. Der kleine Bimal ist in meine Arme gekrochen, Sunil und Indra liegen mit ihren Köpfen direkt an meinem. J.P. hat seinen Kopf auf meinen Beinen gebettet, Sudeep liegt zu meinen Füßen. Gegen halb zehn gibt es ein kleines Nachbeben – es wirkt vergleichsweise heftiger, weil wir direkt auf dem Erdboden schlafen, aber es ist nur kurz, und die meisten Kids wachen auch überhaupt nicht auf davon. Ich selbst öffne nur kurz die Augen, sage müde: „Letʼs count to three before we panic“, da ist es auch schon wieder um. Um 22 Uhr werde ich dann allerdings aus dem Schlaf gerissen, weil Sujan mich weckt. „Brother, come quickly!“, ruft er fast panisch. Irgendwie pule ich mich aus der Kinderschar und arrangiere die schlafenden Engel so, dass sie einigermaßen bequem liegen. Sujan ist eines der ältesten Kinder und patrouilliert dementsprechend, bis alle schlafen. Er hat nun in den Nachrichten etwas schier Unglaubliches gehört: Die Beben seien keine Folge von Erdplattenverschiebung, sondern unter Kathmandu ruhe ein sogenannter Super-Vulkan, der vor dem Ausbruch steht und dann das ganze Land zerstören wird. Während ich den armen Jungen einigermaßen beruhigen kann, rege ich mich tierisch über solche Berichte auf. Was ist denn das für eine bescheuerte Panikmache? Das Problem ist, dass die Nepalesen sowas leider bedingungslos glauben. Am Nachmittag hat Leo aus Spaß erzählt, unter dem Horizon ruhe ein Drache, der nun erwacht sein und die Erdbeben verursacht habe. Als die Kids nicht lachten, sondern nur große Augen machten, korrigierte er das natürlich, aber das zeigte uns, dass die alle mitunter zu gutgläubig sind. Wir sehen das auch bei der leitenden Familie hier – Navaraj, seine Schwester und seine Mutter sind bei jedem Erdstoß am panischsten. Es ist schwierig, dagegen anzukommen und einen kühlen Kopf zu bewahren.


Ich bleibe noch eine Weile wach und gehe in die Bibliothek, wo unter anderem auch Umesh schläft. Er sieht schlechter aus, liegt irgendwie gleichzeitig versteift und verkrümmt auf dem Boden, schwitzt, faselt im Schlaf, stöhnt. Aber unter seinem Kopfkissen sind ja irgendwelche Heilpflanzen, das müsste ja helfen, erzählen die Jungs. Ich will ihnen diesen Glauben gar nicht nehmen, aber ich bin mir sicher, dass das nicht ausreichen wird, um eine Besserung herbeizuführen.


Irgendwann kehre ich zurück zu meinem alten Schlafplatz, lege mich nun selbst ans Fußende der Kids und finde noch ein paar Stunden Schlaf, ehe der neue Tag um kurz vor fünf beginnt. Mir tut alles weh von dem harten Boden, aber trotzdem habe ich etwas Ruhe finden können. Als ich den Sportplatz verlasse und hochkomme, trifft mich der regelrechte Schock: Vor der Bibliothek sitzen zwei Jungs mit Umesh. Ich kann den Anblick wirklich nicht anders beschreiben als dass ich das Gefühl habe, ihm stehe der Tod ins Gesicht geschrieben. Er muss sofort ins Krankenhaus, ist mein einziger Gedanke, und glücklicherweise erfahre ich, dass Navarajs Bruder Nabin schon eines gerufen hat. Gemeinsam mit ihm, Sujan und Kamal fahre ich ins Grande International Hospital. Das Gebäude ist einstürzgefährdet und hat heftige Risse erlitten. Auf dem Vorplatz wurden provisorische Zelte errichten – es ist ein Anblick, den ich nur aus Filmen oder aus Nachrichtenmeldungen kenne. Zum Glück nimmt sich ein Sanitäter Umesh sofort an. Er wird kurz ins Gebäude gebracht und geröntgt. Die Diagnose: nix da Gelbsucht. Lungenentzündung! Ich bin geschockt, dass bei ihm zuvor eine dermaßen falsche Diagnose gestellt und er auch völlig falsch behandelt wurde. Schnell wird ihm über den Tropf ein Antibiotikum gereicht, und sein Feldbett kommt in eines der Zelte. Nun beginnt eine stundenlange Warterei, in der Nabin, die Jungs und ich gar nichts ausrichten könnten. Die Zahl der Ärzte ist rar. Wir sitzen in der heißen Sonne, und ich fühle mich hilflos, weil ich eben überhaupt nichts tun kann. Mittags sieht Umesh schon besser aus. Er redet mit uns, lächelt, wirkt gleich etwas kräftiger. Wir holen ihm Hühnersuppe, die er langsam schlürft. Ein Lichtblick, der allerdings schnell von einem neuen Problem abgelöst wird: Innerhalb weniger Minuten schlägt das sonnige Wetter in eine Gewitterfront um. Es beginnt so heftig zu regnen, dass die Zelte zusammenzubrechen drohen. Besucher und Krankenhauspersonal stehen innen an den Zeltplanen, und mit aller Macht halten wir die Zelte zusammen, damit der Wind sie nicht wegbläst. Vater im Himmel, are you frigginʼ kidding me?!, denke ich nur und bin wirklich etwas wütend, bitte dann aber einfach um genügend Kraft, dass mir der glitschige Stoff nicht entreißt, was auch gelingt. Nach einer guten halben Stunde ist der Sturm vorbei, der Regen hat sich einigermaßen gelegt. Die Patienten werden nun nach und nach in den Eingangsbereich des Krankenhauses geholt, weil es zu gefährlich ist, die draußen an der kühlen Luft zu lassen – der Arzt meint, sonst könnte sich ja jemand eine Lungenentzündung holen. Ha ha. Grrr. Auch im Krankenhaus sieht es nicht besser aus. An jeder Wand eine lange Reihe von Feldbetten mit siechenden Leuten, daneben besorgte Angehörige. Immerhin: Umeshs Zustand bessert sich stündlich. Als wir ein Taxi nehmen, damit wir heimfahren und uns umziehen können, wirkt er schon sehr bei Kräften. Ein Angehöriger von ihm ist gekommen und passt auf ihn auf, solange wir weg sind. Ich beschließe jedoch, nicht zurück ins Krankenhaus zu fahren, einfach weil ich dort nichts ausrichten kann und mich nutzlos fühle, viele Stunden herumzusitzen und nichts zu tun. So fährt Nabin abends allein wieder hin, und ereilt aber schnell die Nachricht, dass es Umesh weiterhin gut geht, wenngleich er erst einmal dort bleiben wird, wenigstens über Nacht.


Die anderen volunteers fahren derweil zur deutschen Botschaft, um die Lage abzuchecken. Louisa berichtet mir von einem bürokratischen Chaos ohnegleichen. Die Touristen würden lieblos abgefertigt werden, niemand sei imstande, wirklich zu helfen. Viele seien tatsächlich ohne Nahrung, ohne Unterkunft. Niemand helfe ihnen bei der Buchung eines Rückfluges. Nun verstehe ich auch besser, was ich die vergangenen Tage aus Deutschland gehört habe, dass die Regierung hierzulande mit allem so überfordert sei. Das ist nun etwas, womit wir uns zum Glück nicht herumschlagen müssen. Wir lesen auch mehrere Zeitungsmeldungen aus Deutschland, in denen es konkret um unsere Einrichtung geht. Teilweise müssen wir schmunzeln, wie wir dargestellt werden. Denn um es noch einmal hervorzuheben. Nahrung und Trinkwasser ist allgemein wirklich ein Problem, und wir müssen jeden Tag aufs Neue schauen, wo wir das herbekommen, aber: Bislang ist es uns immer gelungen, ohne dass wir uns große Sorgen machen brauchten. Die Stimmung unter den Kindern ist auch gut, es um Grunde keine Angst. Im Vergleich zu so vielen, die bei dem Beben alles verloren haben, geht es uns blendend. Wir sind – natürlich! – für jede Spende zutiefst dankbar, denn es sind 70 Kinder hier, die versorgt werden müssen. Aber nichtsdestotrotz haben uns die Umstände gut erwischt, und wir alle haben den Wunsch, dass die Außenwelt das auch weiß und nicht denkt, dass wir hier in Furcht und Schrecken leben und ums Überleben kämpfen müssen.


Es begann wie ein Tag, der allen anderen glich, und nahm doch eine Wende, die alles verändert hat. Ich weiß nicht genau, weshalb ich gerade jetzt in Nepal bin. Aber ich bin dankbar dafür. Wie ihr auch meinen ersten Blogeinträgen herausgelesen habt, hat mich die ganze Erfahrung überwältigt und sich als größerer Segen herausgestellt als ich es mir erhofft hatte. Ich habe natürlich nicht mit den jüngsten Geschehnissen gerechnet, aber auch die werden ihren Sinn haben. Für mich persönlich, für die Kids, für die übrigen Einwohner Nepals, für die ganze Welt.

Kommentar schreiben

Kommentare: 3
  • #1

    Gerold Roth (Mittwoch, 29 April 2015 20:15)

    Lieber Ben,

    Was für ein Segen, Dich in Nepal zu wissen! Für viele bist Du jetzt ein Freund, ein Tröster, ein Heiler, die einzige Hoffnung. Und bei allem, was Du tust, darfst Du auf Inspiration vom Himmel bauen. Traudi und ich wünschen Dir viel Kraft und Hoffnung bei Deinen riesigen Herausforderungen.

  • #2

    Traudi (Mittwoch, 29 April 2015 20:50)

    Ich habe gerade Enkelkinder zu betreuen, ihre Eltern sind im Tempel. Am Abend war grosses Heimweh angesagt und ein Mädchen war untröstlich und weinte im Bett. Reden hilft nicht. Da streichelte ich ihren Kopf und bagann Kirchenlieder zu summen. Dabei erinnerte ich mich, was ichüber Hirnforschung gelernt habe.
    Wenn man singt, musiziert oder zuhört werden im Gehirn Angs-, Furcht- und Wutzentren ausgeschaltet.
    Da hast du ja ein grosses Repertoir. Mit deinen Kindern singen vertreibt, zumindes kurzzeitig die Angst.
    Es hat auch bei Fiona geholfen, sie schläft jetzt.
    Mit lieben Gedanken
    Traudi

  • #3

    Sabine (Donnerstag, 30 April 2015 16:42)

    Lieber Ben,
    Roland hat mir den Link geschickt.... Dein Bericht ging mir sehr nah. Ich bin froh, dass es dir und den Kindern gut geht. Ich drücke euch die Daumen für Alles, was jetzt kommen mag.
    Und ja, Musik und Singen hilft sicher, wenn dir danach ist.

    Glück auf!
    Sabine