Tihar

Ich in festlicher Kleidung, Janak als, öh, Dekra-Gangster :)
Ich in festlicher Kleidung, Janak als, öh, Dekra-Gangster :)

In meinem letzten Beitrag habe ich Dashain als das „nepalesische Weihnachten“ bezeichnet, war dabei aber etwas voreilig, denn die Festlichkeiten zum fünftätigen Tihar toppen Dashain ganz gewaltig. Tihar wird auch als festival of lights bezeichnet, da die ganze Stadt in bunte Lichterketten gehüllt wird und zudem überall diyas entzündet werden, kleine Öllampen. Überall hört man Gesang und fröhliche Menschenscharen. War Kathmandu zu Dashain noch komplett leergefegt, sind nun alle aus den Dörfern zurückgekehrt und bringen Leben und Elan in die Stadt, wie man sie zu keiner anderen Zeit im Jahr erlebt.

Die bekannteste Geschichte über den Ursprung Tihars ist die von Yama, dem Gott des Todes, und dessen Schwester Yamuna, die ihn nach langer Zeit einen Besuch abstatten wollte. Zunächst sandte sie ihm eine Krähe, einen Hund und eine Kuh und suchte ihn dann selbst auf. Sie malte ihm ein Tika aus fünf Farben auf die Stirn und verehrte ihn mit Blumen. In diesem Sinne verehrt auch zu Tihar jede Schwester ihren Bruder auf ähnliche Weise.

Am ersten Festtag, kaag tihar, werden also die Krähen verehrt. Man stellt Teller mit Nahrung nach draußen. Da die Krähe im Hinduismus ein Vorbote des Todes ist und Trauer symbolisiert, bedankt man sich auf diese Weise, dass der Tod an der Familie vorübergegangen ist. Hat jemand einen Angehörigen verloren, wird logischerweise auf sämtliche Feierlichkeiten verzichtet. Da spielt mit rein, wie eng der Verwandtschaftsgrad war und wie lange der Tod her ist (bei Eltern beispielsweise beträgt die Trauerzeit ein Jahr, bei weiter entfernten Verwandten nur 48 oder auch nur 13 Tage.)

Der zweite Tag heißt kukur tihar, an diesem Tag wird der Hund verehrt und erhält sowohl Tika als auch Blumenkette. Der Hund spielt nicht nur in der Hindu-Mythologie an verschiedenen Stellen eine wichtige Rolle, sondern allgemein im Herzen der Nepalesen. Es gibt kaum einen Haushalt ohne Hund – und bei unseren Hündinnen Kali (links) und Lucky merkt man immer wieder, dass sie richtig zur Familie gehören. So ist es in Nepal Sitte, abends die Essensreste vor die Tür zu stellen, damit die Straßenköter Futter haben, was gut gemeint ist, aber nicht sonderlich hilft, dieses Problem unter Kontrolle zu bekommen, denn von den Straßentieren gibt es unzählige. Das Erste, woran sich ein Besucher in Kathmandu nachts gewöhnen muss, ist das konstante Hundegekläffe die ganze Nacht hindurch. Aber auch wenn ich nie ein Tiermensch war, sind mir Kali und Lucky beide ans Herz gewachsen und bekommen heute eine extra liebevolle Streicheleinheit.

Am dritten Tag, gai tihar und laxmi puja, verehrt man sowohl die heilige Kuh als auch die Göttin Lakshmi (rechts), die Göttin des Wohlstands, die Reichtum, Glück, Liebe, Fruchtbarkeit und Schönheit mit sich bringt. Damit sie das auch weiterhin tut, werden vor der Haustür mit Farben und Blumen wahre Meisterwerke hingezaubert und mit diyas umrundet. Ein schmaler, mit brauner Farbe gezeichneter Weg führt vor das Tor, wo ein Teller mit Opfergaben bereitsteht. Lakshmi soll schließlich den Weg ins Haus finden und die Familie nach wie vor segnen. Zu diesem Zweck beginnt an diesem Abend auch eine besondere Tradition, die sich über die nächsten drei Abende zieht, das bhailo und deusi re: Das ist vergleichbar mit dem amerikanischen trick-or-treating, Christmas carolling oder unserem Rummelpottlaufen. Die Kinder laufen umher, singen Lieder und sammeln Geld und Lebensmittel ein und lassen ihren Segen für das jeweilige Haus dar. Dazu aber später noch, denn das haben unsere Kids auch ganz fleißig gemacht. ;)

Am vierten Tag, goru tihar, wird der Ochse verehrt, was als Anlass genommen wird, mal wieder das Haus mit Kuhdung zu bestreichen (mit bloßen Händen natürlich); am fünften Tag, bhai tika, folgt dann schließlich die Ehrung des Bruders durch die Schwester. Damit soll das geschwisterliche Band gestärkt werden, und da ja Yamuna mit ihrem Bruder (immerhin dem Gott des Todes) an diesem Tag zusammenkam, bleibt auch jeder Bruder, der ein Tika von seiner Schwester erhält, an diesem Tage vom Tode verschont. Der Begriff Schwester kann aber durchaus gedehnt werden: Wer keine Schwester (mehr) hat, bei dem übernimmt eine schwesterähnliche Figur diese Aufgabe.

Bhai tika gilt auch als der Hauptfesttag von Tihar, sozusagen das große Finale. Daher nehmen wir diesen Anlass und laden zu einem großen Programm ein, für das die Kinder in der vergangenen Woche rund 200 Einladungen geschrieben und seit Monaten Tänze, Lieder und Theaterstücke einstudiert haben. In jeder freien Minute werden noch letzte Feinschliffe vorgenommen, daneben muss natürlich das Haus dekoriert werden. Hier ein paar erste Einblicke:

Am dritten Abend ziehen auch unsere Jungs los zum bhailo und deusi re. Mit zwei Gitarren, einem Verstärker und einem Lautsprecher samt Mikro bewappnet beginnt die lange Wanderschaft durch verschiedene Stadtteile. Unterstützt werden sie nicht nur von sämtlichen volunteers, sondern auch von Nabin und Rajesh, ein paar der Apartment-Jungs sowieso Shishir, einem Freund der Familie, der das Ganze auch unter seine Fittiche nimmt und sich ans Mikro stellt. Es ist nämlich so: Die Liedertexte sind nicht vorgefertigt, sondern werden spontan erdichtet. Klassisch singt der Hauptsänger etwas vor und der Chor brüllt „bhailo re!“ oder „deusi re!“, zwischendurch jubeln und tanzen alle gemeinsam. Man kann aber salopp sagen, dass es bei den Versen vor allem um eines geht: „Gebt uns viel Geld, damit ihr von Lakshmi gesegnet werdet!“ So bleibt man auch ganz eisern bei einem Haus stehen, bis man Gaben erhalten hat, egal wie lange das dauert. Unser Vorteil ist, dass wir uns einigen Haushalten (Angehörige, Bekannte, Schulleiter usw.) schon angekündigt haben und erwartet werden. Das bringt weitaus mehr Kohle, als wenn man spontan umherzieht. Am ersten Abend verdienen die Jungs 26.000 Rupien (rund 220 Euro); aber selbst ein paar der Kleineren ziehen spontan los und verdienen ein paar hundert Rupien.

Wir reden hier allerdings nicht von einem zweistündigen Rummeln. Nach fünf Stunden Gesang und Herumgelaufe kommen wir ins Touristenviertel Thamel, wo sich Ellen gerade mit ihrer Reisegruppe im Hotel befindet. Dort erhoffen sich die Jungs natürlich besonders viel Geld von den reichen Deutschen – und werden zum Glück auch nicht enttäuscht. Mittlerweile ist es nach neun Uhr abends (um vier sind wir gestartet) und Ellen rät, dass wir nun heimgehen (ist ja immerhin noch ein einstündiger Fußmarsch zurück). Sujan protestiert: Es gibt noch weitere Häuser, die auf uns warten, da kann man jetzt nicht einfach nicht hingehen. Es entsteht tatsächlich ein kurzer kultureller Konflikt, denn die Deutschen sind kaputt und müde (viele der Jungs ja auch), aber schnell zeigt sich: Die Kids wollen weitermachen. Es ist eine einmalige Sache für sie im Jahr und überhaupt ist es das erste Mal, dass sie selber losdürfen. Nabin erklärt, dass man früher die ganze Nacht unterwegs war und es als Beleidigung gilt, wenn man eingeladen wurde und nicht hingeht, egal wie spät es wird. Ein paar Praktikanten (darunter ich, gestehe ich) machen sich müde auf den Heimweg und fallen geschwächt ins Bett; der Rest der Gruppe kommt erst gegen zwei Uhr nachts zurück. Völlig geschlaucht, aber auch sehr glücklich. Hier ein kurzer Ausschnitt unserer allerersten Anlaufstation am Nachmittag:

Auch am zweiten und dritten Abend zieht man los, teils in mehreren Gruppen parallel. Umgerechnet werden rund 500 Euro eingenommen, ein satter Betrag für Nepalesen (man bedenke, ein durchschnittliches Monatsgehalt beträgt nur ein Zehntel davon). Nach Tihar werden die Kinder dafür belohnt (ich ziehe die Fotos jetzt zeitlich vor, damit sie in den Kontext passen): Mithilfe eines ausgebildeten Kochs gibt es als besonderes Tiffin Momos, ohnehin die Leibspeise der meisten Nepalesen. In stundenlanger Gemeinschaftsarbeit werden damit alle verköstigt.

Aber zurück zum Lichterfest. Was das bhailo und deusi re so besonders macht ist, dass man im Dunkeln umherzieht und die Lichterpracht überall bewundern kann. Im Gegensatz zu Deutschland, wo ein übertrieben dekoriertes Haus kitschig wirkt (*familiefranz* *hust*), ist der Anblick schon enorm, wenn eine gesamte Nachbarschaft in bunt funkelnden Lichterketten erstrahlt – dennoch keineswegs so „amerikanisch weihnachtlich“, sondern recht moderat und auch nicht grell. Hinzu kommen die mit diyas beleuchteten Blumendekorationen vor allen Toren, die zusätzlich optisch noch was hermachen. Die Lichterpracht hält übrigens nur über diese fünf Tage verteilt – der Strom ist viel zu kostbar und viel zu teuer, als ihn länger für so etwas zu verschwenden. Schon am Tag nach bhai tika verschwindet rund 95% der Lichterpracht aus der Stadt wieder.

Über unser bhai tika verliere ich keine großen Worte, sondern lasse lieber die Fotos sprechen. Ich kann nur sagen, dass Tihar insgesamt eines der schönsten Feste ist, die ich jemals erlebt habe. Einmal abgesehen von der ganzen Optik durchzieht eine Freude und Leichtigkeit die Stadt, die man selbst beim naturfröhlichen Volk der Nepalesen so gar nicht kennt. Nur vom Touristenviertel sollte man sich unbedingt fernhalten, denn das ist richtig ätzend überfüllt mit größtenteils unangenehmen Touris.

Ich habe auch wieder ein paar Videos gemacht, allen voran natürlich von Ramesh mit seinen Jungs, aber gerade von dem hat YouTube die Tonspur gesperrt, weil wir halt Lieder verwenden, für die ich keine Rechte habe. Das ist schade, weil die Performance wirklich einer der absoluten Höhepunkte des Programms ist. Die übrigen Ausschnitte zeigen den munteren Wechsel der klassischen nepalesischen Musikkultur mit den Einflüssen der Praktikanten, sodass ein wunderbar gemischtes Programm entstanden ist. Und ganz zum Schluss stürmen alle Kinder und volunteers auf die Bühne für ein weiteres deusi re, denn bei so vielen Gästen sollte man natürlich die Chance nutzen und ebenfalls ein paar Spenden erbitten.

Navaraj und seine Familie hatten zu Tihar natürlich am meisten zu tun. Ihre gründliche, liebevolle Organisation hat Tihar für alle zu einem unvergesslichen Erlebnis gemacht. Aber ich möchte auch unsere riesige Praktikantengruppe loben, die voller Tatendrang mit den Kindern Programmpunkte einstudiert und überhaupt während der Ferien so viele Aktivitäten geplant hat. Es ist in der Tat die größte Praktikantengruppe, die seit Gründung des Vereins jemals vor Ort war.

Die aktuelle Praktikantenmasse. Oben: Sunil, Robert, Jakob, Charly, Sarah, Nora, Gwen, Anna-Marleen, Tessa; unten: Ben, Anton, Anna, Caro, Anna, Jan, Franka, Lea
Die aktuelle Praktikantenmasse. Oben: Sunil, Robert, Jakob, Charly, Sarah, Nora, Gwen, Anna-Marleen, Tessa; unten: Ben, Anton, Anna, Caro, Anna, Jan, Franka, Lea

Damit verabschiede ich mich für heute, wobei … eine Neuigkeit gibt es noch. Weil zwei Hunde nämlich nicht genug sind, haben wir jetzt auch noch eine Hauskatze, Micki. Sie schläft im alten Haus im ehemaligen TV room, also direkt vor meiner Tür. Don’t get me started.

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Kommentare: 1
  • #1

    Mama (Sonntag, 06 November 2016 20:08)

    Benny, das ist ein wunderschöner Bericht. Danke dafür. So können wir doch einiges miterleben, was so unter Euch allen vor sich geht. Das Fest muss toll gewesen sein.