Wir erinnern uns zurück: Bei dem schrecklichen Erdbeben im vergangenen Jahr kam unter anderem Gokul ums Leben, einer unserer Zöglinge, der sich mit Mitte 20 einen guten Namen als Reiseveranstalter gemacht hatte. Gokul befand sich mit einer unserer Praktikantinnen, Nadine, und deren Familie auf einem Trek in Langtang. Weil sich Gokul mit Nadine angefreundet hatte, begleitete der die Gruppe persönlich – mit dabei war auch Dharmaraj, ein Mann aus seinem Heimatdorf Sallebaash und ein sehr weitläufiger Verwandter, der im Ausland als Träger gearbeitet und dem er nun einen besser bezahlten Job verschafft hatte, zudem viel dichter daheim. An dem schicksalshaften Tag ging es Kathleen, der Freundin von Nadines Bruder Andi, nicht gut. Sie blieb im Hotel. Unterwegs erklärte auch Gokul, ihm ginge es nicht gut, und gemeinsam mit Dharmaraj machte er sich auf den Rückweg. Beinahe ironischerweise blieb die Gruppe, die sich im Gebirge aufhielt, am Leben, während die drei, die sich im Tal befanden, wo es rein vom Verstand her ja hätte sicherer sein sollten, ums Leben kamen. Für Gokuls Familie brach eine Welt zusammen. Ich gab Gokuls jüngerer Schwester Dibisha Englisch- und später auch Deutschunterricht. Sie wirkte immer sehr gefasst, doch ich werde nie ihre zahlreichen, herzzereißenden Beiträge bei Facebook vergessen – zunächst die Hoffnung, ihr älterer Bruder habe überlebt, dann die traurige Gewissheit, dass er ums Leben gekommen ist. Ich werde auch nie vergessen, wie ich Gokuls Bruder Raj Kumar das erste Mal traf: Mit Louisa war ich zum Flughafen gefahren, weil wir auf Nachricht von Nadine hofften, als Gokuls Kollege Durga mit Raj Kumar uns schließlich abholten. Raj Kumar war in Tränen aufgelöst und er und Louisa lagen sich in den Armen, beide unfähig, überhaupt etwas zu sagen. Gokul war nicht nur sein Bruder – er war der Versorger der Familie. Erst kurz zuvor hatte er den Eltern im Dorf ein neues Haus gebaut, das einzige, das das Erdbeben unversehrt überstand. Raj Kumar hatte nicht nur jemanden aus seiner Familie verloren, sondern von einem Tag auf den anderen wurde ihm eine wahnsinnige Last aufgebürdet.
Dibisha ist inzwischen in Deutschland als Au-pair und hat sich dort sehr gut eingelebt. Raj Kumar ist in die Fußstapfen des Bruders getreten und nun selbst Reiseführer – er steht noch am Anfang und nicht alles läuft glatt, aber als ich ihn im Mai wiedersah, freute ich mich richtig, wie fröhlich und motiviert er auftrat und bemüht war, uns alles so recht wie möglich zu machen. Schon damals fragte er mich, ob ich nicht einmal in sein Heimatdorf kommen wolle – konkret geplant war es dann ein paar Wochen später zu seiner Hochzeit im Juli, was aber nicht klappte, weil ich zwei Tage zuvor richtig hohes Fieber bekam. Nun habe ich es endlich geschafft und habe dem Dorf einen Besuch abgestattet, den ich niemals vergessen werde.
Es ist gerade Trekking-Hauptsaison, auch wenn das Wetter ungewöhnlich schlecht ist für Anfang Oktober. Eigentlich sollte die Regenzeit längst vorbei sein, aber noch immer gießt es fast täglich (na ja, glücklicherweise eher nächtlich). Da Dashain ansteht und somit die wichtigsten Festtage im Hinduismus, fahren die meisten Nepalesen in ihr Heimatdorf und verbringen das Fest mit der Familie. Bei unseren Kindern ist das nicht ohne weiteres möglich, weil es ein zu großes Chaos gäbe und ja auch gar nicht alle überhaupt einen Anlaufpunkt haben. Die Elftklässer dürfen fahren, und Subash und Sagar – die Söhne von Dharmaraj – haben ebenfalls die Genehmigung erhalten. In Raj Kumars Auto fahren wir zunächst 30 Kilometer östlich nach Nagarkot, einem wahren Touristenmagnet, da die immergrüne Hügellandschaft bei gutem Wetter Sicht auf das Himalaya in all seiner Pracht freigibt. Wir sind gute zwei Stunden unterwegs, denn wir brauchen eine Stunde, um überhaupt aus Kathmandu rauszukommen, eine weitere, nachdem wir den Highway verlassen und den serpentinenartigen Sandweg auf knappe 2200 Meter Höhe hochfahren. Sallebaash selbst kann man momentan mit dem Auto gar nicht erreichen. Es gibt zwar eine Straße, aber die ist so vom Regen aufgeschlammt, dass ein Durchkommen nicht möglich ist. Also nächtigen wir in Nagarkot und brechen nach dem Frühstück (Bananenpancakes – und Subashs und Sagars allererste Esserfahrung mit Messer und Gabel) auf. Ein zweistündiger Marsch talabwärts erwartet uns, und die Sonne scheint uns bereits um zehn Uhr morgens heiß ins Gesicht. Subash und Sagar tragen nur ihre Badelatschen und haben gar kein festes Schuhwerk mitgenommen, springen aber völlig mühelos die teils steilen Wege hinab. Die Berge sehen wir nicht, denn es hat geregnet und ist sehr diesig, aber allein die grünen Hügel sind atemberaubend. Immer wieder kommen wir durch kleine Ortschaften – nicht nur Raj Kumar, sondern auch die Jungs werden freundlich begrüßt. Mir ist gleich klar: Hier kennt sich nicht nur jeder, sondern der ganze Bezirk ist eine große Familie.
Nicht umsonst heißt jede einzelne Familie in Sallebaash mit Nachnamen Timalsina: Eine Kastenvermischung kommt in den ländlichen Gegenden nicht einfach so in Frage. Was natürlich nicht heißt, dass nur dorfintern geheiratet werden darf, aber die Auswahl muss eben doch recht sorgfältig getroffen werden. Raj Kumar hatte Glück: Seine Eltern haben in einem nicht weit entfernten Dorf ein Mädchen ausgesucht und ihm vorgestellt. Immerhin durften beide dem Ehevorschlag zustimmen, die Hochzeit fand nur einen Monat später statt. „Do you love her?“, frage ich ganz schamlos. Raj bleibt ehrlich: „Not at first. We never talked to each other. But I learn to love her now. She is a wonderful person.“ Ich glaube ihm. Aber ich glaube auch, dass er der Heirat nicht nur aus Respekt seiner Eltern gegenüber zugestimmt hat – Raj weiß, dass er jetzt der Mann im Haus ist. Er muss für seine Eltern sorgen, die den toten Gokul noch immer betrauern. Dibisha hat einen Freund in Deutschland – vermutlich hätten ihre Eltern grundsätzlich bevorzugt, auch ihr den Mann auszusuchen, aber ein Freund in Deutschland heißt natürlich auch sicheres Geld. Sie wissen, dass ihre Tochter kaum ein besseres Leben haben könnte – und gleichzeitig auch sie selbst mitversorgt werden können. Damit will ich aber unter keinen Umständen den Eindruck erwecken, es ginge hier um Geldgier – nein, in Nepal ist es fester Bestandteil der Kultur, dass die Kinder ihre Eltern im Alter mitversorgen. Rajs Eltern haben sogar auf die Mitgift verzichtet, was bei arrangierten Ehen unvorstellbar großzügig ist, denn die Mitgift kann eine finanzielle Belastung darstellen, die die Familie einer Braut in den Ruin treiben kann. Und Rajs Vater ist schwer krank, konnte lange Zeit nicht einmal mehr laufen oder stehen, geschweige denn irgendwelche Arbeit auf dem Feld verrichten. Dass die Kinder ihren Eltern finanziell unter die Arme greifen müssen, steht außer Frage.
Meine erste Bekanntschaft im Dorf ist ein bezauberndes Mädchen namens Katrina. Sie wird zu meinem Schatten und folgt mir den ganzen Tag auf Schritt und Tritt. Sie trägt ein Kleid mit Erdbeermuster, das Dibisha aus Deutschland mitgebracht hat – ich muss grinsen, denn ich weiß, dass die Kleine ihr Leben lang noch keine einzige Erdbeere gegessen hat. „Timilai kun falful maan parcha?“, frage ich sie in meinem gebrochenen Nepalesisch nach ihrem Lieblingsobst. Mangos natürlich. Ich erkläre Subash und Sagar, dass ich wünschte, man könnte deutsche Erdbeeren und nepalesische Mangos irgendwie zusammenbringen als Gipfel der kulinarischen Rafinesse. Die beiden hocken inzwischen an der Seite ihrer Mutter Sabitri, der anzusehen ist, wie sehr sie sich über die Rückkehr der Söhne freut. Man bedenke, dass sie nicht nur ihren Mann verloren hat, sondern eigentlich die Söhne gleich mit – denn häufiger als zweimal im Jahr sieht sie sie nicht mehr. Wir sitzen in ihrer winzigen Wellblechhütte: Betritt man sie, gibt es einen kleinen Kochbereich, links davon geht es in den Schlafraum. Ein kleiner Tisch befindet sich hier mit dem Bild der Göttin Lakshmi, die unter anderem auch für die Bildung zuständig ist. Außer dem Tisch gibt es nur noch zwei Betten, die gerade so in den Raum passen, eines für Sabitri, das zweite für ihre Schwiegermutter. Solange Subash und Sagar im Dorf sind, teilen sich die beiden Frauen ein Bett, die Brüder das andere. Die beiden sind umringt von ihren Freunden, nein, ihren brothers, die sie ebenfalls endlich nach langer Zeit wiedersehen. Aber einen bitteren Beigeschmack hat das Wiedersehen trotzdem. „Not everyone is happy about us“, erklärt mir Subash. „Some people hate us now because we go to a better school.“ Von Neid ist eben keine Kultur ausgenommen.
Wohin Raj Kumar mich führt, werden wir mit einem breiten Lächeln empfangen. Sein Vater ist noch schwach auf den Beinen, steht aber aufrecht, als er uns begrüßt. Seine Mutter ist eine der schönsten Frauen, die ich jemals gesehe habe: Sie strahlt Energie und Vitalität aus, wunderschön ebene Gesichtszüge, ein herzliches Lächeln. Wie schwer die Bürde ist, dass ein Sohn verstarb und die anderen beiden Kinder fortzogen und der Mann zum Krüppel wurde, ist ihr nicht anzusehen. Da ist keinerlei Verbitterung, keinerlei Unzufriedenheit in ihrer Miene – nur Stärke, Zuversicht und Mut.
Natürlich gibt es erst einmal Dal Bhat, und wir sitzen auf einer Schaumstoffmatte auf dem Boden und schaufeln das wohlschmeckende Gericht nur so in uns hinein. Der Reis hier schmeckt anders als in Kathmandu, er ist körniger, klebriger – und natürlich aus direktem Eigenanbau. Das Haus von Raj Kumars Eltern sticht optisch sofort aus der Masse heraus, man sieht, dass Gokul keine Kosten gescheut hat, damit seine Familie einen sicheren Ort zum Leben hat. Die beiden Räume unten werden als Küche und Lagerraum genutzt, oben befinden sich zwei Schlafzimmer, wovon Raj und ich uns eines teilen. Als ich meine Sachen ablege und ein paar Minuten verschnaufen will, betritt Rajs Vater den Raum. Er spricht ziemlich passables Englisch für einen Dorfbewohner, ich bin beeindruckt, wie gut wir uns verständigen können. Er fragt mich, ob ich Gokul gekannt habe, und als ich dies bejahe, beginnt er sogleich bitterlich zu weinen. In einer Mischung aus Nepali und Englisch erzählt er von seinem Erstgeborenen, und es geht mir sehr nahe, wie frisch die Wunde nach wie vor ist. Es gibt auch gar nichts Adäquates, was ich äußern könnte. „Your son was a good man“, sage ich schließlich. „He was lucky to grow up in such a wonderful family.“ Raj frage ich später, ob man im Hinduismus an ein Weiterleben der Seele glaubt, was er bestätigt. „Then never lose hope“, rate ich ihm. „Always believe that you will see him again one day.“
Wir setzen unsere Reise durchs Dorf fort. In fast jedem Haus werde ich gebeten, mich zu setzen und einen Milchtee zu trinken. Ich schaue beim Pflügen und Säen zu, was alles per Hand abläuft. Strom gibt es zwar, aber nicht den ganzen Tag, und Geld für Maschinen ist nicht vorhanden. Am Aufwändigsten ist die Mais-Aussaat, die mithilfe von Büffeln durchgeführt wird, die erst einmal sorgsam auf die Felder herabgeführt werden müssen. Ich beobachte alles äußerst interessiert. Für richtigen Smalltalk reicht mein Nepalesisch noch nicht richtig, aber ich sage das, was ich sagen kann und lasse mir die fehlenden Wörter von Raj oder Subash nennen. Die Antwort verstehe ich trotzdem nicht, aber es kommt gut an, dass ich bemüht bin, mit den Einwohnern in ihrer Sprache zu kommunizieren. Raj zeigt mir die Felder, die seiner Familie gehören – Reis, Mais, Kaffee, Bananen, Chili, Ingwer werden angebaut. Letztes Jahr hat er zwei Mangobäume gepflanzt, aber ehe die Früchte tragen, vergehen noch ein paar Jahre. Reisernte war im Juli, nun ist der Mais dran. Im ganzen Dorf türmen sich vor und in den Hütten die Kolben. Der Großteil der Ernte wird als Futter fürs Vieh verwendet, nur wenig verkauft oder selbst gegessen. Ein paar Stunden sitzen wir zusammen und pulen die Maiskörner von den Kolben. Am schwierigsten ist der Anfang, also quasi eine Längsreihe von oben nach unten, dann geht es einfach. Katrina sieht, dass ich noch nicht geübt bin und leistet an einem Kolben Vorarbeit, ehe sie ihn mir reicht, damit ich es einfacher habe. Später holt uns Subash, weil seine Mutter Popcorn gemacht hat, was allerdings hier einfach heißt, dass die Maiskörner in der Pfanne angeröstet werden. Es schmeckt gut und ich genieße, wie gemütlich hier alles abläuft und wie jeder überall Teil des Geschehens ist. Man kümmert sich nicht nur ausschließlich um die eigene Ernte – dort, wo man gerade ist, setzt man sich und hilft mit. Wie gesagt, eine große Familie.
Als es dämmert, schauen wir zwei Bauern beim Melken zu. Der eine fragt mich, ob ich die Milch probieren möchte und lädt uns in sein Haus ein. Im Gegensatz zu den meisten anderen Familien wohnt diese noch in dem vom Erdbeben beschädigten Haus, das mit Wellblech und Holz repariert wurde. Von innen sieht es aus wie etwas, was wir als Schuppen oder Scheune bezeichnen würden. Der linke Teil ist sehr niedrig und vor der offenen Feuerstelle sitzt eine ältere Dame und kümmert sich um das Gemüse, ehe sie die Milch entgegennimmt und aufkocht. In der Mitte befindet sich ein riesiger Berg von Reissäcken, daneben haufenweise Maiskolben. In der rechten Hälfte ist eine riesige Plane ausgebreitet, auf der die Maiskörner liegen; tagsüber werden sie draußen in der Sonne getrocknet. An den Wänden befinden sich zwei Betten und eine Couch. Mindestens zehn Personen wohnen hier; wo alle schlafen, weiß ich nicht. Der große Flachbildfernseher an der Wand wirkt wie ein Anachronismus – aber Fernsehen und Handys sind eben der Zugang der Dorfbewohner zur Außenwelt. Wir schauen den Anfang eines neuen nepalesischen Comedyfilms, während wir die heiße, sehr leckere Milch trinken.
Mein Bett ist hart, aber nicht härter als das, was ich ohnehin gewohnt bin, und gemütlich mummele ich mich in die große dicke Decke ein. Um kurz vor 22 Uhr beginnt ein heftiger Regenschauer, der auf dem Wellblechdach fast ohrenbetäubend ist, auf mich aber angenehm und beruhigend wirkt. Raj Kumar ist noch mit ein paar Freunden unterwegs, dafür gesellen sich unzähliche Motten, Grillen, Spinnen und Fliegen zu mir, aber auch da bin ich inzwischen abgehärteter als vor einem Jahr.
Der Morgen verläuft genauso ruhig und entspannt wie der Tag zuvor. Stress gibt es hier nicht – dabei hat es wohl in den frühen Morgenstunden ein kurzes Erdbeben gegeben, was nun Gesprächsthema #1 ist, aber ich habe gar nichts davon mitbekommen. Die Nachbarn bringen mir drei leckere kleine Fladenbrote (Roti), Rajs Eltern verköstigen uns erneut mit Dal Bhat. Rajs Vater ist sehr kommunikativ und tauscht auch gleich Handynummern mit mir aus. Am liebsten würde ich noch viel länger bleiben und nicht nur als Außenstehender das Dorfleben beobachten, sondern noch mehr darin eintauchen. Vielleicht habe ich dazu ein andernmal die Gelegenheit. Rajs Eltern lassen mich wissen, dass ich jederzeit wieder willkommen bin. Und ich weiß, das ist keine Floskel, sondern kommt aus tiefstem Herzen.
Noch mehr geht mir allerdings der Abschied von Sabitri ans Herz. Raj bietet sich als Übersetzer an und fragt mich, ob ich ihr noch etwas sagen möchte. Ich sage eigentlich nur das, was mir angemessen erscheint – ich bedanke mich für ihren Mut, ihre beiden Söhne in die Stadt zu geben. Ich sage ihr, dass ich Subash und Sagar von Herzen lieb habe und weiß, dass die beiden so tolle Jungs sind, weil sie so tolle Eltern haben. Sabitri beginnt augenblicklich zu weinen und bedankt sich, dass wir uns so gut um ihre Kinder kümmern. Sie sagt, dass die beiden in Kathmandu glücklich sind, weil sie dort geliebt werden und sich wohl fühlen. Am liebsten möchte ich sie umarmen, aber es gibt eben doch auch kulturelle Grenzen, und es ist auch gar nicht notwendig, denn manchmal sagen auch ein Lächeln und ein aufrichtiges „Namaste“ alles, was gesagt werden muss.
Subash und Sagar vermisse ich natürlich jetzt schon. „You will be nice to each other?“ Sie nicken. „You will listen to your mother?“ Sie nicken. „You will help in the house?“ Sie nicken. „You will get up at 5 in the morning for study time?“ Sie lachen. Ich drücke sie lang und gebe ihnen einen Kuss auf die Stirn, ehe Raj und ich uns auf den Weg zurück nach Nagarkot machen. Wir nehmen eine längere Route, damit ich noch mehr von der Landschaft habe. Da wir am Vortag nur bergab gewandert sind, müssen wir heute natürlich wieder komplett hoch, sogar höher als Nagarkot mit einem herrlichen Blick aufs Tal. Es ist zwar wieder bewölkt, aber ich störe mich nicht an den fehlenden Bergen und genieße die frische Luft, die wunderschön angelegten Terrassenfelder, das satte Grün, das ich so aus Deutschland gar nicht kenne. Gedanklich bin ich aber vor allem in Sallebaash und dem Bruchteil, den ich vom Leben dort nur mitbekommen habe und wie dieser mich bereits geprägt hat. Wenn ich überlege, wie rückständig das Leben in Kathmandu schon im Vergleich mit dem westlichen Standard wirkt – die schlechten Straßen, der furchtbare Verkehr, die Stromsperren, kein fließend warmes Wasser, kein Trinkwasser aus dem Hahn … Das ist alles kein Vergleich zum Leben auf dem Land. Und dennoch spiegelt genau diese Art Leben das für mich aus, was Nepal eigentlich ausmacht: Die gemütliche, äußerst gastfreundliche Art und dass man das Leben so nimmt wie es kommt, auch wenn man von Tragödien heimgesucht wird. Gokuls und Dharmarajs tragischer Tod wird im Herzen derer, die sie lieben, immer ein Loch hinterlassen, das nicht gefüllt wird. Dennoch verlieren sie nicht den Mut und schauen nach vorn. Womit sie vielen, die gute Straßenverhältnisse und Dauerstrom und fließend warmes Wasser haben, um einiges voraus sind.
Und wer erwartet mich nach meiner Rückkehr? Der kleine Saugat (sieht aus wie der Last Airbender, finde ich) ist seit ein paar Tagen unser jüngster Zuwachs. Ich begrüße ihn und ernte nicht nur ein breites Grinsen, sondern er kommt gleich in meine Arme gelaufen und weicht die nächsten Stunden nicht von meiner Seite. Seine Mutter starb, als er gerade erst zehn Monate alt war, sein Vater zog dann nach Indien und ließ den Jungen bei der Großmutter zurück, die ihn leider schlecht behandelte. Er lief sogar selbstständig in ein Hotel, das ihrer Hütte gegenüber stand, und bot an, dort als Tellerwäscher zu arbeiten – mit vier Jahren! Nun bat uns die Großmutter, ihn aufzunehmen. Er war noch nie im Kindergarten oder in der Schule, spricht auch so gut wie kein Englisch, wirkt auf mich aber ziemlich clever. Ich habe keine Sorge, dass er sich gut einfügen wird, aber es ist tatsächlich nicht so einfach hinzunehmen, dass ein weiteres Maul gestopft werden muss. Es werden weiterhin dringend Patenschaften gesucht, damit es möglich ist, dass die Kleinen versorgt werden. Dass Saugat und ich momentan die gleiche Frisur teilen, hat übrigens keine Krankheits- oder Läusegründe, sondern im Zuge der Dashain-Festtage wurde ihm, wie es in manchen Kasten üblich ist, der Kopf geschoren zum Gedenken an einen verstorbenen Verwandten, in diesem Fall eben die eigene Mutter, an die er sich vermutlich kaum wird erinnern können, wenn überhaupt.
Und zum Schluss noch ein paar neue Fotos aus der Reihe „Subash macht Quatsch“. :)
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Tiny (Sonntag, 09 Oktober 2016 21:31)
Ben danke für den sehr toll geschriebenen Einblick, ich hatte das Gefühl dabei zu sein, und Tränen sind geflossen.
Ich bewundere dich sehr, dass du diesen Weg gehst! :-*
Mama (Sonntag, 09 Oktober 2016 23:20)
Danke, Benny, das ist wirklich ein eindrucksvoller Bericht. Ja, wir können wirklich dankbar sein, dass wir so "reich" sind und doch manchmal über Kleinigkeiten unzufrieden. Man merkt, wie glücklich Du mit "Deinen" Kindern bist. Mach weiter so!