Benny’s back

Als mich Mieke und Christian vor etwas über einem Jahr zum Flughafen gebracht haben, hatte ich einen Moment Pipi in den Augen. Ich war ein bisschen überwältigt von der Tatsache, meine Freunde und Familie fünf Monate zurückzulassen und mich in ein Abenteuer zu stürzen, wie ich es vorher noch nie erlebt hatte. Die Ungewissheit, wie ich mit der Kultur klarkommen würde, wie mich die Kinder aufnehmen würden, was alles in der Zeit auf mich wartete, stimmte mich unruhig – und Gedanken an etwaige Erdbeben verschwendete ich gar keine.

 

Diesmal ist etwas gravierend anders. Schon den ganzen Tag über kommen mir immer wieder die Tränen, wenn eine neue Verabschiedung ausgesprochen wird. Vielleicht liegt es daran, dass mein Gepäck nicht in der eigenen Wohnung steht, die es nicht mehr gibt. Noch mehr aber wohl an der Tatsache, dass ich nur einen Hinflug gebucht habe und keine Ahnung habe, wann ich das nächste Mal wieder in Deutschland bin. Ich bin hin- und hergerissen, weil ich mich zum einen tierisch auf die Kinder freue, mein Herz aber auch in der Heimat ist, wo ich viele zutiefst vermissen werde.

 

Aber warum mache ich das eigentlich? Hätte nach den fünf ereignisreichen Monaten im vergangenen Jahr nicht Schluss sein können? Natürlich nicht. Wie auch? Wie kann, nachdem man eine schwere Naturkatastrophe und anschließend die Hilfsmaßnahmen und den Wiederaufbau erlebt hat, jemals Schluss sein? Wie könnte man die individuelle emotionale Bindung, die man im Laufe der Zeit zu 80 Kindern aufgebaut hat (zu manchen natürlich intensiver als zu anderen), als etwas abtun, was mit dem Ende der fünf Monate ebenfalls zum Abschluss kommt? Als ich wieder in Deutschland war und mich dem vergleichsweise drögen und unbefriedigenden Alltag widmete, spürte ich nicht nur den Wunsch, die Kinder gern irgendwann mal wiederzusehen. Vielmehr stellte sich das Gefühl ein, dass meine Arbeit dort „unfertig“ war. Erst gegen Ende normalisierte sich der Alltag nach dem Beben ja überhaupt – erst gegen Ende knüpfte ich bessere Kontakte zu den Schulen und hatte das Gefühl, auf der Bildungsebene ein bisschen voranzukommen. Und nun hockte ich in Frankfurt wieder im Büro? Irgendwas stimmte da nicht. Der Gedanke, nach Nepal zurückzukehren, manifestierte sich also relativ schnell und wurde immer deutlicher. Aber ich wollte weder nur ein paar Wochen Jahresurlaub aufwenden noch dasselbe Spiel erneut spielen, ich wollte einen viel klareren Schritt. Also begann ich zu planen, und zwar ein wenig drastischer, und leitete alles in die Wege, um nach Nepal zurückzukehren.

 

Wie lange ich bleiben werde? Ungewiss. Was mich dann in Deutschland erwartet? Ungewiss. Angst? Nö. Denn wenn ich eines gewiss weiß, dann: Wenn ich diese Chance hier nicht ergreife, werde ich es für immer bereuen. 

Am Flughafen erwarten mich Konni, den ich im vergangenen August selbst noch eingearbeitet habe, und der bis Anfang Mai im Lande verweilt, und meine süße Nichte Rebekka, die ich vor ein paar Monaten für Nepal begeistern konnte und die seit Anfang Februar im Haus der Hoffnung tätig ist – die Vorstellung, dass Onkel und Nichte für einige Zeit gemeinsam in Nepal verweilen werden, hat die ohnehin schon große Vorfreude noch mal enorm gesteigert.

 

Die Abendluft ist genauso herrlich verdreckt und schwül, wie ich es in Erinnerung habe. Irgendwie fühlt sich alles auch noch sehr „unreal“ an. Als das Tor zum Dhapasi-Haus nach der gewöhnlich turbulenten Taxifahrt schließlich aufgeht und mich Haushündin Kali sogleich schwanzwedelnd anspringt, weiß ich jedoch: Hier bin ich nicht fremd. 

Es folgen Ellen, die derzeit ebenfalls hier ist, viele neue volunteer-Gesichter – und schließlich die Kids. Also die älteren Jungs. Es ist mittlerweile halb neun, die kleinen Kinder schlafen im neuen Haus (dazu gleich mehr), die älteren Mädchen sind ebenfalls schon auf ihren Zimmern. Kamal ist gerade auf dem Weg ins Haus und macht nur große Augen, ehe wir uns in die Arme fallen. Ihm folgt Dinesh. „Come uncle, come fast“, ruft er und zieht mich in den zweiten Stock zu den Jungszimmern. Ein paar Lichter sind schon aus, aber es werden rigoros alle angeschaltet. Ich selbst kann es kaum fassen, die Jungs wieder in meine Arme zu schließen. Erst fünf, dann zehn, dann fünfzehn Stimmen reden auf mich ein. Ich werde begrabbelt, als müsse man sich sicher sein, dass ich es wirklich bin. Meine Glatze wird mit Küssen überhäuft. Als ich mich schließlich von ihnen löse und wieder nach unten gehe, bin ich aufgedreht, obwohl mein ganzer Körper eigentlich nach Bettruhe schreit. Ich bin beflügelt von dem Wiedersehen, stehe aber auch etwas neben mir, kann irgendwie gar nicht richtig verarbeiten, dass ich tatsächlich zurück bin. Die vergangenen Wochen waren mitunter sehr stressig, weil viel zu organisieren war, und ich konnte ohnehin nur einen Schritt vor den anderen setzen. Dass die Reise nun irgendwann auch buchstäblich angetreten werden würde, versetzt mir irgendwie einen kleinen Schock. 

Aber das ist nicht alles. Zwar wird die fröhliche Begrüßungsorgie am nächsten Morgen fortgesetzt und macht mich euphorisch, aber als study time beginnt und ich mit ein paar Neuntklässlern kreatives Schreiben übe, fühle ich mich etwas seltsam. Das Dal Bhat verschlinge ich regelrecht, aber das komische Gefühl lässt nicht nach. Erst im Laufe des Vormittags merke ich: Das „Neue“ fehlt mir ein bisschen. Da ich mit den Gepflogenheiten vertraut bin, fühlt sich bereits der erste Tag schon routiniert an, zudem ist er laut und anstrengend, weil derzeit alle 90 Kids auf einem Haufen hocken (dazu gleich mehr – wirklich jetzt). Zudem haben sie sich äußerlich kaum verändert (okay, Ramesh hat jetzt einen Schnurrbart, siehe oben links), und es wirkt, als wäre ich eigentlich nie fortgewesen. Bis ich also „ankomme“, vergehen ein paar Tage. Das ist aber völlig okay, denn ich stehe weder unter Zeitdruck, noch muss sich das gleiche Gefühl der Aufregung überhaupt einstellen. Die Hauptsache ist doch, dass die sinngebende Arbeit nicht verloren geht. Und wenn ich vormittags oder nachmittags draußen auf einem der ausgerollten Teppiche liege, vergehen keine zehn Sekunden, bis meine Aufmerksamkeit in Anspruch genommen wird – und wenn ich mit Zeit für die Kids nehme, ist alles andere ohnehin ohne Belang. Das habe ich schließlich schon vor einem Jahr feststellen dürfen.

Völlig gleich ist jedoch nicht alles: Es gibt das Gongabu-Haus nämlich nicht mehr. Ein anderes Haus wurde angemietet, und zwar nur eine Gehminute vom Dhapasi-Haus entfernt. Dass der zwanzigminütige Marsch zum anderen Haus entfällt, ist natürlich hervorragend – zudem gibt es viel mehr Möglichkeiten, Aktivitäten für alle Kinder zu planen. Ganz bewältigt ist der Umzug aber noch nicht, da vom Vormieter noch nicht alle Etagen freigeräumt wurden und ein paar neue Anbauten noch nicht fertig sind (unter anderem ein Speiseraum und neue study rooms). Bis dahin schlafen die Gongabu-Kids dort also schon, verbringen aber den ganzen Tag im Dhapasi-Haus. Gegessen wird in Schichten. Ist das Haus erst einmal komplett eingerichtet, bekommen die volunteers dort sogar eine eigene Etage – inklusive eigenem Bad und eigener Terrasse, was natürlich schon purer Luxus ist, auf den sich alle freuen. Ferner sind auch die Apartment-Jungs und -Mädels viel präsenter im Alltag und verbringen viel Zeit mit den Kindern, auch das war vor einem Jahr aufgrund verschiedener Differenzen noch anders.

Trotz Routine wird es also nicht langweilig. Und während Satyaman mit mir rauft oder Ishwor mir eine Armbanduhr aufs Handgelenk malt oder ich den Kids in abendlicher Runde ein Märchen erzähle oder Rapten sich an mich schmiegt und übers Leben philosophiert oder ich als Fußball-Hasser beim Mädchen-Fußballturnier mitspiele und jeden noch so schlechten Pass überschwänglich lobe oder im Chaos von Brennball mit 60 Kids versinke oder Dal Bhat mit Blumenkohl esse und denke: „Best food ever“, freue ich mich auf das neue Abenteuer, das mir bevorsteht. Vieles mag altbekannt sein, aber das Schöne an menschlichen Beziehungen ist ja, dass man sich gemeinsam entwickelt und noch enger zusammenwächst – und dass das hier geschehen wird, steht wohl außer Frage.

Kommentar schreiben

Kommentare: 4
  • #1

    Irma Franz (Montag, 11 April 2016 14:06)

    Hallo Benny.
    So schön hast Du geschrieben, dass einem ganz warm ums Herz wird. Da kriege auch ich Pipi in die Augen obwohl ich Dein Umfeld nicht kenne. Die Herzlichkeit und die Liebe die Du ausstrahlst ist so gegenwärtig dass ich denke das ist Dein Weg. So schön auch dass die Freude bei den Kids so groß war und jetzt alle glücklich sind Onkel Ben wieder zu haben.
    Ich wünsche Dir eine sehr schöne Zeit, bleib gesund und glücklich.
    Grüße von Irma und Charly

  • #2

    Petra (Montag, 11 April 2016 19:11)

    Alles gute für dich in Nepal . Ich freu mich immer davon zu lesen liebe Grüße Petra

  • #3

    Mj (Montag, 11 April 2016 20:50)

    So ehrlich, so schön!
    Sending Love and hugs!! (Way better hugs than Those Kids.... !!! ) :)
    Liebste Grüße an deine Rabauken!

  • #4

    Brusten (Montag, 11 April 2016 22:34)

    Schön von dir zu hören!
    Fühl dich an meine Brusten gedrückt.