Abschied, aber nicht wirklich

„How lucky I am to have someone who makes saying goodbye so hard.“ (WtP)

Es nutzt nichts, zu lamentieren, wie schnell die Zeit letzten Endes vergangen ist – ich wusste, der Abschied würde kommen, und nun steht er vor der Tür. Den Juli hindurch habe ich den Gedanken erfolgreich verdrängt und mich einfach auf die Arbeit konzentriert, im August habe ich dann langsam begonnen, mich teilweise (und halt notgedrungen) damit anzufreunden. Laura und Konstantin sind inzwischen als Verstärkung angekommen, sodass ich mir keine Sorgen machen brauche, dass alles weiterhin seinen gewohnten Lauf nimmt. Laura wurde von den Mädchen mit offenen Armen empfangen – ich wage zu behaupten, dass sie mich auch sehr lieb gewonnen haben, aber es ist natürlich trotzdem etwas anderes, eine weibliche erwachsene Bezugsperson im Haus zu haben. Gerade in Nepal. Konstantin ist der totale Fußball-Freak, wovon die Jungs begeistert sind, denn das ist immerhin etwas, womit ich all die Zeit nicht dienen konnte.

Worauf freue ich mich? Natürlich auf meine Familie und meine Freunde. Ich freue mich auf ruhigere und sauberere Straßen, die frischere Luft. Ich freue mich aufs Fahrradfahren. Ich freue mich auf Schwarzbrot und Aufschnitt. Ich freue mich darauf, dreckige Klamotten einfach in die Waschmaschine schmeißen zu können. Den Staubsauger rauszuholen anstatt das Zimmer fegen zu müssen. Auf meinen Backofen. Auf eine kakerlakenfreie Wohnung. Auf das Meer.

Aber dann schau ich die Kids an und mir bricht das Herz. Zwar spüre ich ganz klar, dass dies kein Abschied für immer sein wird, und dennoch ist er so schwer. Seit nunmehr drei, vier Wochen höre ich von den Kindern immer wieder die Frage: „Uncle, when are you going?“, denn sie wissen ebenfalls, dass der Zeitpunkt naht. Als ich noch sagen konnte: „I still have a month“ oder „I still have three weeks“, war ihnen die Erleichterung anzusehen. Nun sehe ich Enttäuschung. Immer wieder höre ich „I wish you would stay …“. Ja, das wünsche ich mir auch. Denn nach fünf Monaten sehe ich keine Horde Kinder mehr vor mir, die es zu unterhalten gilt. Ich sehe individuelle Persönlichkeiten, die alle auf ihre ganz eigene und persönliche Weise mein Herz für sich gewonnen haben. Daher besteht mein Abschied hier im Blog auch darin, jedem von ihnen ein paar Zeilen zu widmen – zumindest den Großen, mit denen ich den überwiegenden Teil meiner Zeit verbracht habe. Ich möchte euch Leser wissen lassen, wer diese Kids sind, die mir so ans Herz gewachsen sind, und was sie mir bedeuten.

Von Ashok habe ich ja schon des Öfteren berichtet. Er ist mein Held. Er ist einer der intelligentesten Kinder, die ich je getroffen habe. Oft versichere ich ihm, dass er einmal Präsident von Nepal wird – und wieso auch nicht? Er lernt den Schulstoff nicht nur, sondern versteht und hinterfragt ihn. Er macht sich Gedanken über das Leben und stellt mir viele Fragen über das Leben und die westliche Welt, aber manchmal sitzen wir auch nur zusammen und blödeln. Er hat außerdem eine wunderschöne Gesangsstimme. Bei ihm merke ich auch ganz besonders krass das feste Vertrauen, das sich im Laufe der Zeit entwickelt hat. Wir haben uns immer gut verstanden, aber anfangs war er ein bisschen reservierter – inzwischen kommt er, nimmt meine Hand, berichtet mir von seinem Tag. In dem zierlichen Körper steckt schon ein richtig erwachsener Geist.

Binita ist meiner Meinung nach eines der schönsten Mädchen in Dhapasi. Sie hat so glatte, ebenmäßige Gesichtszüge und ein wunderschönes Lächeln, das sie mir immer zuwirft, wenn sich unsere Blicke treffen. Sie schäkert ganz schön – ich glaube, in Deutschland würde sie ziemlich vielen Jungen den Kopf verdrehen. Sie ist aber auch von ihrer Art her liebenswürdig und ein sehr umgänglicher Mensch. Mir ist schon aufgefallen, dass sie sich gern erkenntlich zeigt – bei kleinen Aufmerksamkeiten bedankt sie sich auch Tage danach erneut und tut mir kund, wie sehr sie sich gefreut hat.

Dinesh hat ein Herz aus Gold. Es vergeht kein Tag, an dem er mir nicht sagt: „Uncle, I love you sooo much!“ und mir einen Kuss auf die Wange (oder Glatze) drückt. Er ist ein begeisterter Fußballer und möchte gern einmal Fußballprofi werden (wie 95 Prozent der anderen Jungen ebenfalls). Manchmal stellt er mit aus heiterem Himmel tiefgehende Fragen, und überhaupt ist er oft tief in Gedanken versunken. Regelmäßig lässt er mir kleine Aufmerksamkeiten zukommen – Bilder, kleine Notizen –, einfach kleine Liebesbeweise, die ich alle sorgsam aufbewahre. Nach dem Erdbeben haben wir oft nebeneinander auf dem harten Boden geschlafen, und ich habe ihn immer wieder wissen lassen können, dass er in Sicherheit ist. „But can u protect me from earthquake, uncle?“, fragte er dann. „For you, Iʼll kick earthquake in the butt“, lautete meine Antwort.

Himal ist ein kleiner „Checker“. Er erzählt mir oft, wie viele Tore oder Körbe er beim Sport in der Schulpause erzielt hat und freut sich wie ein Schneekönig, wenn ich ihn dafür lobe. Er arbeitet aber auch hart für die Schule und liegt abends als Erstes im Bett, weil er so fertig vom ereignisreichen Tag ist. Er liebt den „Frozen“-Soundtrack und hat gerade in der Zeit nach dem Erdbeben ständig gefragt, ob wir die Lieder gemeinsam auf meinem iPod hören können. 
Vor den Zwischenprüfungen habe ich ihm bei Accounting geholfen, wovon ich zugegebenermaßen gar nichts weiß, aber er hat 81 Prozent erzielt und sie dem gemeinsamen Lernen zugeschrieben. Diesen Glauben nehme ich ihm mal einfach nicht. :)

Indra ist einer der unauffälligsten Jungen. Er hat guten sozialen Kontakt zu den anderen Jungs, aber man nimmt ihn einfach nicht so wahr wie die anderen. Als wir nach dem Erdbeben draußen im Zelt abends nebeneinander lagen und schwätzten, ging er auf einmal völlig aus sich heraus, riss einen Witz nach dem anderen. Ich liebe solche Augenblicke, wenn man eine völlig neue Seite an einem Menschen kennenlernt und ihn dadurch um so mehr lieb gewinnt.

JP (Jay Prakash) ist neben Prakash und Navaraj einer der Jungen, die mir beim Essen immer gegenübersitzen (und ganz automatisch ihre Füße auf meinen platzieren, weil das schließlich viel wärmer ist als auf dem kalten Boden – gern zupfen sie auch mit ihren Zehen an meinen Beinhaaren). JP isst so schnell wie kaum ein anderer bei einer dreifach so großen Portion – dabei ist er so klein und dürr. Er kommt auch gern und holt sich Umarmungen oder erzählt einen neuen Witz, den er in der Schule aufgeschnappt hat. Wir haben schon unzählige Basketballmatches gemeinsam bestritten und unsere Gegner platt gemacht. Okay, okay, meistens wurden wir platt gemacht. Aber ich möchte mit niemandem lieber platt gemacht werden als mit meinem JP.

Kamal – „Mr. Sexiness“ oder „Mr. Eightpack“ – geht in die 9. Klasse und gehört zu den verantwortungsbewusstesten Jungen hier im Haus. Rein äußerlich würde man ihn eher als Schlägertypen einordnen, der für Ärger sorgt, dabei hat er ein großes Herz und ist außerdem einer der besten Schüler seines Jahrgangs (sogar Klassenbester). Er hat die Verantwortung für mehrere Aufgaben im Haus (unter anderem die Bibliothek) und packt immer gern mit an. Er ist mir ein großes Vorbild an Fleiß und freiwilligem Engagement. Er ist auch künstlerisch äußerst begabt und hat mich schon mit sehr tiefsinnigen Zeichnungen überrascht.

Khem Raj ist der typische Elefant im Porzellanladen, immer muss er alles angrabbeln und dabei kaputtmachen, da hilft es auch nicht, dass seine Brille (die er auf dem Foto nicht tragen wollte) die ersten Monate komplett schief saß (bis sie dann ganz zu Bruch ging und wir ihm eine neue besorgt haben). Er ist auch ein liebevoller, witziger und sportbegeisterter Junge, der mich immer wissen lässt, wie gern er mich hat, und jeden Gute-Nacht-Kuss auf die Stirn mit zehn Küssen auf die Glatze erwidert.

Malika ist ein richtiger Sonnenschein. Jeden Tag begrüßt sie mich mit einem überschwänglichen „Good morning, Uncle!“ oder „Good afternoon, Uncle!“ (je nach Tageszeit). Manchmal, wenn ich oben am PC sitze, steckt sie den Kopf rein. „Malika, what can I do to make your life brighter?“, frage ich dann immer und ernte ein breites Lächeln. „I just wanted to say hello“, sagt sie mir dann augenzwinkernd. Sie hat viele Aufgaben im Haus und ist die Letzte, die schlafen geht, weil sie das Tor draußen noch abschließen muss. Das bedeutet kontinuierliches Schlafdefizit – und trotzdem habe ich sie noch nie launisch erlebt, sondern immer freundlich.

Manisha ist unser „special case“, ein so liebenswürdiges Mädchen mit relativ schweren  Lerndefiziten. Nach wie vor finde ich es toll, wie gut sie integriert ist und wie sehr sich die anderen Mädchen um sie kümmern. Manisha liebt es, Freundschaftsbänder zu knüpfen, und sie ist richtig gut darin. Außerdem ist sie eine tolle Badminton-Partnerin und trifft den Federball mit einer Genauigkeit, wie man es ihr auf den ersten Blick gar nicht zutrauen würde. Die Hausaufgaben mit ihr sind langwierig, weil sie langsam ist und wenig begreift und es mehr darum geht, dass sie etwas auswendig lernt, dessen Bedeutung sie gar nicht erfasst. Ich bin jedoch froh, dass sie hier bei uns ist und ihr dadurch die Chance geschaffen wird, etwas aus sich zu machen und ihren Platz im Leben zu finden, was vielen nepalesischen Jugendlichen in einer ähnlichen Situation gar nicht möglich ist.

Die „kleine“ Manisha gehört auch zu den ganz besonders hübschen Mädchen hier. Sie ist unermüdlich fleißig, und selbst wenn die anderen spielen gehen, sagt sie manchmal seufzend: „I will study a little bit more …“ Das macht sich bei ihren Noten natürlich positiv bemerkbar, aber glücklicherweise vergisst sie auch nicht die Freude am Leben, sitzt oft im Kreis mit ihren Freundinnen und scherzt, während sie gemeinsam Bänder knüpfen. Sie ist immerwährend fröhlich, hilfsbereit und einfach ein angenehmer Mensch, mit dem ich gern Zeit verbringe.

Manita ist ein wenig zurückhaltender (und interessanterweise Indras ältere Schwester – liegt wohl möglicherweise an den Genen) und es hat ein bisschen gedauert, bis wir richtig warm miteinander waren, aber inzwischen haben wir ein richtig herzliches Verhältnis. Sie ist eine begnadete Künstlerin und zeichnet für ihr Leben gern, und oft sitzen wir zusammen und wetteifern, wer die schönere Disney-Prinzessin malt. Sie hilft viel in der Küche und bringt mir oft heiße Zitrone, bei der sie dann betont, dass sie sie ganz allein zubereitet hat. Ich lasse sie natürlich wissen, dass es die beste heiße Zitrone ist, die jemals auf dieser Welt gekocht wurde.

Navaraj – ach, wir lieben und wir hassen uns. Na ja, eigentlich hasst nur er mich des Öfteren mal, denn ich kann gar nicht genug von ihm bekommen, selbst wenn er unterträglich ist. Der winzige, super-schmächtige Mann ist schon ein ziemlich Problemkind – kann sich nicht konzentrieren, schlecht in der Schule, faul, zofft sich ständig mit den anderen Jungen bis hin zu körperlichen Auseinandersetzungen, bei denen er immer den Kürzeren zieht, weil alle größer und stärker sind. Wir kabbeln uns oft liebevoll, und er fordert mich ständig heraus, will ringen und ist fest überzeugt, dass er mich besiegen kann, bis ich dann wieder über ihm hocke und ihn durchkitzele, bis er um Gnade winselt. :D Wir haben nun fast fünf Monate miteinander gelernt, und teilweise ist es an die Substanz gegangen, weil er eben schwierig sein kann, aber ich habe ihn in dieser Zeit auch einfach unglaublich lieb gewonnen, selbst wenn ich ihn mal zurechtweisen muss und das obligatorische „I never talk to you again!“ bekomme, das in der Regel nach wenigen Stunden wieder verklingt und abends dann gegen ein „I love you“ ausgetauscht wird.

Nisha ist das erste Mädchen, dessen Name ist mir gemerkt habe – allerdings half sie mir auch und fragte konsequent nach, wie sie denn heiße, und sie hat ein großes, unverkennliches Lächeln, das es mir leicht machte, mir einzuprägen, wer sie ist. Wie ich gehört habe, war es nicht immer einfach mit ihr in der Vergangenheit, und davon habe ich nun gar nichts mitbekommen, denn sie ist so eine liebenswürdige, freundliche junge Dame. Sie ist auch die einzige, die mich bei meinem vollen Namen ruft, also Benjamin-Uncle, aber „Bendschamin“ ausgesprochen, und da ich das besonders fand, habe ich mich auch nie dagegen gewehrt.

Norden kann schon ein kleiner Spacko sein. Er ist oft sehr fordernd und zeigt dann wenig Dankbarkeit, aber wenn ich ihn darauf hinweise, grinst er mich breit an, sagt „Thank you, Ben-Uncle“ und umarmt mich. Er ist ein Winzling, liebt aber Basketball und ist richtig gut und treffsicher. Durch seine Größe entkommt er einem auch oft sehr flink. Er ist außerdem ein musikalisches Genie, hat eine sehr sichere Gesangsstimme und spielt gut Blockflöte. Abends versteckt er sich regelmäßig unter dem Bett, hinter der Tür oder unter der Decke und springt mich dann unerwartet an. Ich bestrafe ihn dann mit übermäßig vielen Küssen auf die Stirn, aber er wehrt sich auch nicht dagegen und nimmt sie lachend entgegen.

Pasang sticht zunächst einmal aus einem Grund hervor: Sie ist das einzige Mädchen in Dhapasi, dessen Vorname nicht auf „a“ endet. Aber auch in anderer Hinsicht ist sie durchaus einzigartig. Mir ist schon etliche Male aufgefallen, wie witzig ist – und dass sie Sprüche loslässt, die man von einem nepalesischen Mädchen ihres Alters gar nicht erwarten würde. Sie gehört auch zu den wenigen Mädels, die sich, was Körperkontakt angeht, nicht sonderlich scheu zeigt. Sie hat mir schon ein paar Mal spontan aus Neugier über die Glatze gestrichen (die Hand aber natürlich wieder kichernd weggezogen – sie ist und bleibt ja schließlich ein Mädchen …).

Meine erste gemeinsame Erinnerung mit Pooja geht auf meine ersten paar Wochen zurück, als ich oben auf dem Dach Wäsche gewaschen habe. Sie wiederum hängte gerade Wäsche auf, unterbrach die Arbeit, kam auf mich zugelaufen und sagte: „Uncle! Please sing Do you want to build a snowman for me!“ Inzwischen haben sich die gemeinsamen Erinnerungen gehäuft. Pooja ist ehrgeizig und manchmal sehr verzweifelt, wenn sie die Hausaufgaben nicht versteht. Dann lässt sie richtig theatralisch den Kopf auf das Schulbuch senken und seufzt laut auf. „Do you need help?“, frage ich. Sie schaut nur grinsend auf: „But Uncle … itʼs math …“ Ja ja, sie weiß schon, wo Uncle helfen kann und wo nicht. Sie ist auch eine begeisterte Klavierschülerin und übt in ihrer Freizeit fleißig.

Prabha gehört zu den ruhigsten Mädchen. Ich kann ehrlich gesagt nicht sagen, ich hätte mich sonderlich häufig mit ihr unterhalten. Aber: Mich beeindruckt ihr Engagement. Wenn sie ein Schulprojekt am Start hat, kniet sie sich rein wie keine andere. Alles muss nicht nur inhaltlich, sondern auch optisch perfekt sein. Oft verbringt sie Stunden am freien Samstag damit, die Projekte optisch aufzumöbeln, und immer wirkt sie dabei gestresst. Sie ist auch äußerst hilfsbereit – ein paar Mal ist sie, wenn ihre Klassenkameraden etwas nicht richtig verstanden haben und ich mich dämlich angestellt habe, weil die Aufgabenstellung mal wieder völlig bekloppt war, dazugekommen und hat erklärt, was genau der Lehrer will und was gemacht werden soll.

Prakash war in den ersten Wochen nach meiner Ankunft noch in Gongabu, zog dann aber nach dem Erdbeben aus Platzgründen nach Dhapasi. In der Umgewöhnungsphase war er etwas schwierig und gerade zu den weiblichen volunteers recht schroff, weil er meinte, nun eben „Mann“ sein zu müssen und kein Kind mehr (und daher gemein zu Mädchen), aber er hat sich prächtig entwickelt. Jeden Abend beim Gutenachtsagen winkt er mich zu sich heran und flüstert mir eine Weisheit ins Ohr, die er aufgeschnappt hat – Sprüche wie „Love solves everything“ und „Without a good heart, a wealthy man is a poor beggar“.

Praman fand ich in den ersten paar Wochen ein bisschen anstrengend, weil er es immer besonders witzig fand, mich grundsätzlich nur auf Nepalesisch anzusprechen – aber letztendlich hat es auch bei ihm nicht lange gedauert, bis ich ihn ins Herz geschlossen habe. Er gehört auch zu meinen begabtesten und lerneifrigsten Klavierschülern. In den Ferien wollte er jeden Tag mindestens eine Stunde üben und forderte ständig neue Lieder, weil er die aktuelle Melodie schon wieder beherrschte. Außerdem hat er MEGA SCHÖNE Augen, was ich ihm jeden Tag aufs Neue vorhalte.

Puja geht in die 10. Klasse, und der damit verbundene Stress ist ihr durchaus anzumerken. Wir erinnern uns: Die Zehntklässler machen morgens von 4 bis 6 Uhr Hausaufgaben, fahren in die Schule, kommen abends um 18 Uhr wieder, nur damit es mit dem Lernen weitergeht – oftmals sitzen sie noch an ihren Aufgaben, wenn wir volunteers schon ins Bett gehen. Eine Zeit lang habe ich mir Sorgen gemacht, denn Puja ist sehr fleißig, aber die fröhliche Art, die ich in den ersten Wochen bei ihr erlebt habe, verflog so ein bisschen, als die Schule wieder losging. Inzwischen hat sie jedoch ein gutes Mittelmaß gefunden, und nachdem sie die Zwischenprüfungen mit Bravour bestanden hat, wirkt sie reichlich entspannter. Puja liebt Disney-Prinzessinnen und bittet des Öfteren darum, dass ich ihr mal wieder eine zeichne.

Ramesh ist einer der schönsten und angenehmsten Menschen, denen ich je begegnet bin. Er ist immer herzlich und streitet nie. Er ist gut in einfach allem – Sport, Schule, Musik, Tanzen. Wenn ich sarkastische Bemerkungen mache, ist er der Erste, der lacht. Er hat meinen Humor immer verstanden. Ich weiß, dass es falsch ist, Lieblingskinder zu haben, und grundsätzlich kann ich auch sagen, dass ich eine gleichwertige Liebe für alle habe – aber zu Ramesh hatte ich irgendwie von Anfang an ein ganz besonderes Band. Da er und sein Bruder nicht hier wohnen, sondern die Söhne einer der Hausangestellten sind, bringe ich die beiden abends nach dem Essen immer heim. Ich genieße es, sie über ihren Tag auszufragen, und sie genießen es, mir alles detailliert zu erzählen. Mich von ihm zu verabschieden, fällt mir ganz besonders schwer.

Rapten ist der Zwillingsbruder von Norden – und eine völlig andere Persönlichkeit. Er ist einer der anschmiegsamsten Jungs, kommt oft einfach nur, um mich in den Arm zu nehmen und bei mir zu sitzen. Manchmal singt er mir etwas vor, manchmal scherzen wir zusammen. Er ist sensibel und eine Frohnatur. Er gehört zu den besten Schülern seines Jahrgangs und begreift den Schulstoff unheimlich gut, außerdem ist sein Schriftenglisch hervorragend. Zu einem Running Gag zwischen uns hat sich entwickelt, dass wir einander spontan zusingen: „You are the most handsome man in the world!“ und vom anderen unterbrochen werden mit „No, you are the most handsome man in the whole universe!“ bis hin zu „No, you are the most handsome man in all the universes of the universes of the universes!“ Seine kleinen, von Tinte blau gefärbten Finger, die mir jeden Tag den Kopf kraulen und über das Gesicht streichen, werde ich sehr vermissen … und natürlich das vierhändige  Klavierspiel mit ihm. :)

Sachin gehört zu den ältesten Jungs und strahlt in ganzer Linie Reife aus. Er ist ungewöhnlich groß für einen Nepalesen und sehr gutaussehend, zudem ein hervorragender Schüler. Ich kann mir gut vorstellen, dass er außerhalb von Nepal studieren wird, dazu hat er auf jeden Fall das Potenzial und Denkvermögen – das Lernen fällt ihm nicht nur leicht, sondern erfasst die Inhalte auch einfach super. Sachin und ich sind fantastische Volleyballpartner. Uns sind öfters schon Täuschungsmanöver gelungen, die ich mir bei Mila Superstar abgeguckt habe. :)

Samjhana ist immer fröhlich. Sie lacht viel, macht Witze und findet gleichzeitig die Ausdauer, ihre Schularbeiten mit einer Hingabe wie sonst keiner zu erledigen. Manchmal bittet sie mich um Hilfe, obwohl sie alles schon von sich aus perfekt macht – aber sie möchte es eben noch ein bisschen perfekter haben. In den ersten Wochen habe ich viel Zeit mit ihr beim Kartenspielen verbracht, inzwischen sind wir auf Badminton umgestiegen. Sie und Manisha sind diejenigen, von denen ich die meisten Freundschaftsbänder bekomme.

Sanjeev ist auch eher unauffällig – er kommt selten an und bittet um Hilfe oder einen Gefallen, was allerdings auch daran liegt, dass er Klassenbester ist und in der Schule keine wirkliche Unterstützung benötigt. Er gehört außerdem zu den wenigen Leseratten – seine Freizeit verbringt er am liebsten mit Büchern, und ich habe ihm tatsächlich erfolgreich die „Hunger Games“-Trilogie angedreht, die er in den vergangenen Wochen in jeder freien Minute verschlungen hat. Regelmäßig habe ich mich erkundigt, wie er die Geschichte fand, und wir haben auch ein bisschen über die Thematik gesprochen. „One person can make a difference!“, habe ich ein paar Mal betont – denn gerade smarte junge Leute wie Sanjeev können etwas in diesem Land bewirken.

Srijhana ist sehr verantwortungsbewusst. Sie hat viele Aufgaben im Haushalt – hilft sehr viel in der Küche, verriegelt abends mit Malika Tür und Tor. Sie ist sehr höflich – während viele inzwischen rigoros in mein Zimmer stürmen, fragt sie immer, ob sie hereinkommen darf. Sie und Pasang hatten übrigens eine ganz, ganz tolle Projektarbeit in der Schule: Eine Präsentation über … ta-daaa: Seilbahnen. Also durchstöberten sie mit mir gemeinsam Wikipedia, um alle Einzelheiten darüber zu erfahren. Ich konnte mir kein langweiligeres Thema vorstellen, aber irgendwie waren die beiden Mädels voll dabei und zeigten mir ein paar Tage später ein äußerst geschmackvoll erstelltes Poster mit allen Informationen. Wer also mal mehr über Seilbahnen erfahren möchte …

Sujan ist derzeit der älteste Junge in Dhapasi und schon im Programm, seitdem er sehr klein ist. In vielerlei Hinsicht ist er so typisch für Jungs in dem Alter – er liebt Basketball und Fußball, zeigt Interesse an handwerklichen Tätigkeiten, legt sich gerne mal mit Gleichaltrigen an oder kommandiert Jüngere herum – er ist sogar eine der wenigen, der sein Interesse am weiblichen Geschlecht ein wenig offener kundtut als die meisten (wenn er die Mädchen mal nicht respektlos behandelt, was auch vorkommt). Kali, die Haushündin, gehört eigentlich ihm, und er kümmert sich richtig liebevoll um sie – und ist auch sonst jemand, der man sofort ins Herz schließt. Er hat von Anfang an starkes Interesse am engeren Kontakt gezeigt und mir immer das Gefühl gegeben, zu Hause zu sein. Unter der teilweise rauen Schale also ein richtig weicher, herzlicher Kern.

Es ist seit meiner Ankunft kein einziger Tag vergangen, an dem „kleiner“ Sujan (man muss diejenigen mit gleichem Namen schließlich irgendwie unterscheiden) mich nicht umarmt und gefragt hat: „How are you?“ Bei ihm hatte ich außerdem nicht ein einziges Mal das Gefühl, das sei nur eine Floskel. Ihm lag immer am Herzen, dass ich mich wohl fühle, und er hat erheblich dazu beigetragen, dass ich mich so schnell eingelebt habe. Bei Sujan merkt man, dass er in seiner Denkweise sehr in den nepalesischen Traditionen verankert ist, und bei vielen Gesprächen hat er mich nur sprachlos angesehen, in anderen Situationen ließ er sich nur schwer beruhigen („Nein, in zwei Wochen wird Kathmandu wirklich nicht restlos zerstört!“; „Nein, auf dem Balkon spukt nicht der Geist einer alten Dame!“). Aber sowas beeinträchtigt ja nicht die Liebe in meinem Herzen. ;)

Sunil ist der Sohn unserer Küchen-didi. Er ist ein richtiger Clown – was einen nicht wundert, wenn man seinen Vater kennenlernt, der nämlich genauso ist. Sunil ist aber auch ein verantwortungsvoller älterer Bruder (seine jüngere Schwester ist tagsüber in Gongabu), und überhaupt liebe ich ja seine komplette Familie. Die ruhige, stets hilfsbereite Art seiner Mutter, die lustige, offenherzige Art des Vaters, und dann noch so zwei süße Kinder … Vielleicht meine nepalesische Lieblingsfamilie. :) Wenn Sunil gerade nicht seine Gegner vom carrom-Brett fegt, beeindruckt er schwer mit seinen hervorragenden schulischen Leistungen.

Surendra ist einfach ein so lieber Mensch. Er gehört zu denjenigen, die besonders viel Körperkontakt geben und wünschen. Vom ersten Tag an hat er mich spüren lassen, dass er mich schätzt und ich hier willkommen bin. Beim Basketball bereitet es ihm manchmal einfach nur Freude, wenn ich danebensitze und zuschaue, wie er Körbe erzielt. Oder er freut sich, wenn er Gitarre spielt und ich ihm zuhöre. Oder nach der Schule einfach neben ihm sitze, während wir unsere Mango oder unseren Apfel verspeisen, und ihm lausche, wie sein Tag war und was er in der Schule gemacht hat. Er hat oft Reibereien mit unserem hitzigen, kleinen Navaraj, und ich musste den beiden schon mehrfach androhen, dass ich ihren Kopf in die Toilette stecke, wenn sie nicht sofort aufhören. Beide hingen auch schon kopfüber über der Schüssel, ehe endlich eine Entschuldigung kam. After all, a Ben Uncle keeps his promises. :)

Swastika ist wirklich einzigartig. Von ihrer Persönlichkeit her wäre sie in Deutschland wohl das Mädchen, das man als trouble maker bezeichnen würde. Sie ist sehr extrovertiert und lässt jeden klar wissen, wie der Hase läuft. Man kann nicht mit ihr spielen, ohne dass sie schummelt (dies aber auch offen zugibt), und wenn sie einem mit ihrem breiten Grinsen Geschichten auftischt, ist unklar, was davon jetzt wirklich stimmt und was erfunden wurde. Aber: Sie ist wirklich liebenswert und sehr witzig. Manchmal fragt sie mich, ob sie ein Bollywood-Musikvideo auf meinem Laptop anschauen kann, und dann tanzt sie ganz aufgeregt durchs Zimmer, weil sie so begeistert ist. Sie möchte natürlich auch selbst Bollywood-Schauspielerin werden. Aber zum Glück vergisst sie dabei die Schule nicht. :) Sie hat sich von mir auch schon den Discofox-Grundschritt zeigen lassen und ist eines der wenigen Mädchen, die gern Volleyball mitspielt.

Dass Umesh zu den Großen gehört, lässt er schon gern raushängen. Aber er ist nie respektlos und seinen kleinen brothers und sisters ein gutes Vorbild. Er war derjenige, der zur Zeit des Erdbebens so furchtbar krank war und bei dem nach der Falschdiagnose Gelbsucht schließlich eine schwere Lungenentzündung festgestellt wurde. Er ist ohnehin so dünn, und während der Krankheit war er nur noch Haut und Knochen. Ich werde nie vergessen, wie wir um sein Leben gebangt haben – und das in der ohnehin so schweren Zeit nach dem Beben – und wie groß der Beifall war, als das Tor aufging und ein erholter Umesh zurück aufs Gelände kam. Inzwischen ist er natürlich wie neu, geht seinen Sportvorlieben nach, hockt aber tatsächlich auch gerne vor der Glotze und lässt sich von Bollywood berieseln.

„Kleiner“ Umesh ist der kleine Bruder von Ramesh. Fußball ist sein Leben, und eigentlich verbringt er seine Freizeit auch mit kaum etwas anderem. Gleichzeitig ist er ein äußert verkuschelter Zeitgenosse, der abends nach der Abschiedsumarmung eisern meine Hand festhält, weil er mich nicht gehen lassen will. In den vergangenen Wochen hat er meine Frage, wie sein Tag war, stets mit „Good but not excellent“ beantwortet. Die Antwort auf das Warum lautete immer: „Because you are leaving soon.“ Das geht ans Herz, macht den Abschied aber natürlich nicht leichter. Er ist schon ein ganz besonderer Goldschatz.

Leider habe ich kein Foto von Shioba, mit der ich ja viele Wochen lang nachmittags und auch morgens gelernt habe. Sie ist zwar nach wie vor im Programm, lernt aber mittlerweile daheim mit ihrem Onkel und ihrem älteren Bruder, die derzeit nicht so viel zu tun haben. Das heiße ich einerseits gut, andererseits ist es schade, dass sie außerhalb der Schule nur noch unter Erwachsenen ist und wir sie gar nicht mehr zu Gesicht bekommen. Shioba und ich hatten auch unsere Reibereien, weil sie nicht besonders viel Ehrgeiz an den Tag legt, aber wir hatten auch durchaus unseren Spaß. Und wenn sie wollte, hat sie ihre Zickereien auch erfolgreich durch liebenswertes Verhalten ausgetauscht.

Zu erwähnen wären auch noch Dikysha und Dipesh, die beiden Kinder einer unserer didis, die seit ein paar Wochen nach der Schule in Dhapasi sind, obwohl sie ja ein ganzes Stück jünger sind. Beide kämpfen noch ein wenig mit ihrem Englisch, wobei Dikysha in ihren Zwischenprüfung tolle Ergebnisse erzielt hat. Dipesh ist mega süß, aber ein richtiger Rotzlöffel (buchstäblich, wie man sieht), der nur Mist im Kopf hat, und daher teilweise ziemlich anstrengend ist. Wie gut, dass er nachmittags meist so ausgepowert ist, dass er bei den Hausaufgaben mit dem Stift in der Hand einschläft. Schlafende Kinder sind schließlich Engel, und da ist er keine Ausnahme.

Und die Kids in Gongabu? Ja, wollt ihr denn noch vierzig weitere Berichte? :) Die Wahrheit ist: Die Kleinen sind mir ebenso ans Herz gewachsen. Aber grundsätzlich hat einfach mehr Kontakt zu den Großen bestanden, weshalb ich es beispielsweise schwierig fände, zu vielen der kleinen Mädchen etwas wirklich Persönliches loszuwerden. Bei vielen Jungen würde mir das schon einfacher fallen. Aber ich möchte niemanden außen vor lassen, und ich denke, an dieser Stelle reicht es auch, wenn ich sage, dass ich die Kleinen ebenfalls heiß und innig liebe, zu den Größeren aber, weil ich dort eben auch wohne und mehr Zeit mit ihnen verbracht habe, einfach eine noch intensivere Beziehung aufgebaut habe, und diesen Blogeintrag daher ihnen widme.

Fünf Monate, die mich so stark geprägt haben wie bislang kaum eine andere Zeit im Leben, gehen nun zu Ende. Fünf Monate in einem Land, das Deutschland nicht im geringsten ähnelt – nicht nur Landschaft und Leute, auch das Leben an sich ist mit dem, was wir im Westen kennen, nicht miteinander zu vergleichen. Ich habe eine der schlimmsten Katastrophen und deren Folgen miterleben müssen und bin auch noch dankbar dafür, weil das Ganze meine Perspektive stark beeinflusst und verändert hat. Ich bin unendlich dankbar für meine Mitpraktikanten Gwen, Leo, Anna, Lukas, Nina, Pia, Nadine und Louisa, mit denen ich das gemeinsam durchgestanden habe. Wir haben uns gegenseitig viel Kraft und Halt gegeben. Aber am meisten geprägt haben mich natürlich die Kinder mit ihrer Herzlichkeit und Liebe, von der ich noch lange profitieren werde. Sie haben mir gezeigt, worauf es im Leben wirklich ankommt – Liebe und Zusammensein, auch wenn man sonst nichts hat.

Ja, der Abschied fällt mir schwer. Aber irgendwie weigere ich mich auch ein bisschen, ihn als Abschied zu sehen. Denn im Herzen ist eine Familie ja schließlich nie getrennt, oder? Und dass es ein Wiedersehen geben wird, dessen bin ich mir sicher. Außerdem: यो मन्  त मेरो नेपाली हो – „Yo maan ta mero nepali ho“ – Tief im Herzen bin ich Nepalese.

Für immer.

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Kommentare: 5
  • #1

    Gabi (Montag, 17 August 2015 07:46)

    Geht mir total ans Herz. Danke, Ben! Du bist wirklich der beste uncle der Welt!

  • #2

    Brusten (Samstag, 22 August 2015 10:22)

    Das geht mir wirklich zu Brusten! Bin so beeindruckt, wie du es in den 5 Monaten geschafft hast, eine persönliche Beziehung zu jedem aufzubauen (one by one). Deine Schilderungen sind sehr bewegend und ich war teilweis zu Tränen gerührt und wünschte, jedes dieser Kinder würde in einer Familie aufwachsen, in der es spürt, dass es geliebt wird.
    Aber ich musste auch sehr lachen, zum Beispiel beim kleinen Sujan: „Nein, auf dem Balkon spukt nicht der Geist einer alten Dame!“ :D

  • #3

    Lamee (Samstag, 26 September 2015 19:29)

    Was hast du als nächstes vor?

    Warum haben viele der Mädchen ein Nasenschmuck?

  • #4

    Ben (Sonntag, 27 September 2015 09:09)

    Nasenschmuck bei Mädchen/Frauen ist ein Zeichen der Kastenzugehörigkeit.
    Was als Nächstes kommt, weiß ich derzeit selbst noch nicht so genau. :)

  • #5

    Sieglinde Harder (Sonntag, 28 Februar 2016 08:09)

    Oh Ben, ich kann gar nicht genug von dir lesen und bin total begeistert wenn ich etwas finde. Deine Erzählungen sind so ausgeprägt, dass man das Gefühl hat, selbst dabei zu sein. Zumindest ergeht es mir so. Wirst du darüber ein Buch schreiben? Dann kannst du sicher sein, dass ich das Buch haben werde.