Vielleicht lächelt mir Boyd K. Packer gerade von irgendwoher zu, weil ich mich in zwei Punkten meines Aufklärungsworkshops von ihm inspiriert gefühlt habe … Wobei ich auch hinzufügen muss, dass ich den Rest seiner an pubertierende Jungs gerichtete Ansprache von vor vierzig Jahren in Teilen erschreckend daneben finde. Aber man kann ja das Gute nehmen und weiterverarbeiten.
Es ist also soweit: The big talk. Ich hab mir in den vergangenen anderthalb Wochen schwerst überlegt, was ich eigentlich sagen und welche Schwerpunkte ich setzen will. Bevor Ajay und ich uns am Sonntag im Kino vergnügt haben, pfiffen wir uns im Kwality Café das obligatorische Chicken Chili und Garlic Naan rein und erörterten die Möglichkeiten. Wir waren uns ziemlich schnell einig: Es würde nicht um die eigentliche Fortpflanzung gehen – denn das lernen sie tatsächlich in der Schule. Es soll darum gehen, was da in ihnen vorgeht und wie sie damit umgehen können. Außerdem machte Ajay einen hervorragenden Vorschlag: Er würde eine seiner Freundinnen mitbringen, die als Krankenschwester arbeitet und ihn auch schon bei den Aufklärungskampagnen zu den Themen Erdbeben und Hygiene unterstützt hat. Während Ajay und ich mit den Jungs zusammensitzen, kann sie mit den Mädchen sprechen.
Also bastele ich mühseliger Arbeit einer Power Point zusammen, damit es kein langweiliger Vortrag wird, und bin vor allem Freitag tagsüber relativ hibbelig, denn es soll ja letzten Endes ein positives Erlebnis werden und nicht durchweg peinlich. Den Jungs verspreche ich nur: „This afternoon there is going to be a surprise …“ Die Augen werden groß: „Chocolate?“ ist das Erste, was alle vermuten. „Yes, that as well …“ Über alles Weitere verschweige ich mich. Aber ich habe seit längerer Zeit noch ein ungeöffnetes Glas Nutella im Regal stehen, das ich für einen besonderen Anlass aufbewahren wollte, und ich habe beschlossen, dass dieser Anlass nun gekommen ist. Ich besorge also Toastbrot und schmiere vierzig Nutella-Schnittchen, die gierig beäugt werden. Nicht einmal das Schmiermesser soll ich säubern: „Let me clean it!“, bieten mir vier Jungs auf einmal an – aber da kann ich natürlich nicht einen bevorzugen und die anderen leer ausgehen lassen. Also werden die Überreste am Messer brutal mit Wasser abgewaschen.
Navaraj, den ich ja eigentlich gebeten hatte, dabei zu sein, macht pünktlich fünf Minuten, bevor es losgehen soll, die Fliege. Ob er nicht dabei sein will oder ihm tatsächlich andere Pläne in die Quere gekommen sind, will ich gar nicht beurteilen. Ich sage mir: Vielleicht ist es sogar besser so, vielleicht sind alle unverkrampfter. Ich nehme es einfach, wie es kommt – anders funktionieren die Dinge hier in Nepal auch gar nicht.
Als Ajay und Susmalama im strömenden Regen auf dem Motorroller das Tor erreichen und ins Haus eilen, werden die Jugendlichen schnell in zwei Gruppen geteilt. Die Mädchen bleiben unten im study room, die Jungs kommen hoch in den TV room, wo ich meinen Laptop bereits aufgestellt habe. Ich überlasse Susmalama einen Schnittchen-Teller und sage ihr, sie kann die Leckerei ausgeben, wann sie mag. Bei den Jungs verteile ich die Brote vorher und nicht im Anschluss als Belohnung. „Please enjoy original German chocolate spread and remember that I love you“, sage ich. „Because in a few minutes you might have serious doubts about that …“ And so it begins …
Aber unverkrampft ist es eigentlich von Anfang an. Als Einstieg habe ich ein paar Folien vorbereitet, auf den Fragen abgebildet sind, die Jungs in diesem Alter normalerweise durch den Kopf gehen
– wenn sie allein sind und wenn sie mit Mädchen zusammen sind. Dann überlasse ich Ajay das Feld, der über Hormone spricht und was vom wissenschaftlichen Standpunkt her im Körper eines
pubertierenden Jungen geschieht, aber vor allem, wie sich das auf dessen Gefühlswelt auswirkt. Ich bin froh, dass Ajay dabei ist, denn er ist nicht nur mein Bindeglied zur Sprache, sondern auch
zur Kultur, und er kann einlenken, wenn er merkt, dass die Jungs mir nicht folgen können oder ich möglicherweise einen Kulturschock verursache (wozu es glücklicherweise jedoch nicht kommt). Nach
Ajays Worten schauen wir allerdings erst einmal einen kurzen Clip, den ich von YouTube runtergeladen habe, in dem direkt, aber auch ein bisschen humorvoll drei wichtige Fragen behandelt werden,
die körperliche Aspekte der Pubertät behandeln: Wachstum, Muskelaufbau und … „What is going on down there?“
Was uns zum nächsten Themenkomplex führt. Und zu Boyd K. Packers Vergleich des menschlichen Körpers mit einer Fabrik, den ich an dieser Stelle aufgreife – denn die Hormone arbeiten wahrlich wie am Fließband und werden niemals müde. Und während wir über ungewollte und stimulierte Erektionen, feuchte Träume und Selbstbefriedigung sprechen, stelle ich glücklicherweise fest, dass die Jungs herzlich auf meinen Humor reagieren, das Schweigen, das ansonsten herrscht, jedoch nicht peinlich berührt, sondern aufmerksam interessiert wirkt. Ich muss mir eines jedoch auch immer wieder vor Augen halten: Es geht hier um Aufklärung und um Fakten. Es ist kein religiöser Workshop, und bestimmte Glaubensansichten, mit denen ich groß geworden bin, darf ich hier einfach nicht als ultimative Wahrheit verkaufen. Ich spreche sowieso gar keine Empfehlung oder dergleichen aus. Ich sage ihnen lediglich, dass alles, was da gerade in ihnen vorgeht, normal ist, sie keine Angst vor diesen Veränderungen zu haben brauchen – und dass jeder sie durchläuft.
Ein Thema liegt mir jedoch sehr am Herzen. Ich habe schon mit den Apartment-Jungs darüber gesprochen, weil ich es unglaublich gefährlich finde, in welche behüteten Umgebung die Kids aufwachsen und dann die Schule abschließen und plötzlich auf sich alleine gestellt sind – klar empfangen sie nach wie vor Hilfe, aber die Art von Führung und Disziplin, die sie jahrelang gekannt haben, ist von einem Tag auf den nächsten einfach verschwunden. Da sitzen sie dann allein vor ihrem Laptop, den sie vorher nie hatten, und surfen in einem Netz der unbegrenzten Möglichkeiten und wissen rein gar nichts darüber. Und, wie erinnern uns: Der Anlass des Ganzen hier war ja, dass eines der Kids auf meinem Handy nach Pornos gesucht hat. Aber auch hier trichtere ich ihnen keine Doktrin ein – ich bekräftigte, wie normal Neugier ist. Ich berichte von deutschen Schulhöfen, und Ajay bestätigt, dass (wenn auch im abgeschwächten Maße) auf nepalesischen Schulhöfen Ähnliches durchaus vorkommt. Ich berichte von optischen Reizen, denen wir in der westlichen Kultur ausgesetzt sind (Werbeplakate, Fernsehen usw.) Ich frage, wer von den Jungs einmal heiraten möchte. Alle Hände gehen nach oben. Dann spreche ich von der Kombination von Liebe und Sex und der Gefahr, dass die Emotionen abstumpfen, wenn man sich übermäßigem Pornokonsum hingibt. An dieser Stelle folgt auch Boyd K. Packers zweiter Punkt, den ich erwähne, dass nämlich unsere Gedanken wie eine Bühne sind und wir letztlich selbst entscheiden, welche Art Theaterstück dort stattfindet. Dass der Sextrieb stark ist und manchmal überhand nimmt und wir lernen müssen, eine gewisse Balance zu entwickeln und unsere Gedanken nicht von einem Bereich so stark dominieren lassen, dass alles andere langfristig nur noch unbedeutend ist. Ihnen muss also bewusst werden, dass Sexualität gut ist und etwas Besonderes und sie müssen lernen, dass es auch ihr Leben hindurch etwas Besonderes bleibt.
Wir diskutieren auch andere Formen der Sexualität. Ich hab ehrlich gesagt keine Ahnung, ob es Kids gibt, die sich mit dem Thema beschäftigen oder gar selbst betroffen sind, aber ich habe einen nepalesischen Schwulen kennengelernt, der mir die schwierige Situation erläutert hat, die hierzulande herrscht – in einem Land, in dem gleichgeschlechtliche Ehen sogar legal sind, aber nur, weil Nepal das erste südost-asiatische Land sein wollte, in dem das erlaubt ist. Traditionsgemäß und gesellschaftlich ist das ganze Thema nach wie vor ein absolutes Tabu. Ich sage den Kids auch, dass mir das sehr wohl bewusst ist – aber dass Probleme eben nicht weggehen, bloß weil keiner darüber spricht. Und dass es genau wie in der westlichen Welt, in der andere Formen der Beziehung gesellschaftlich akzeptabel sind, auch Nepalesen gibt, die feststellen, dass sie all die Gefühle, über die wir heute gesprochen haben, für jemanden des eigenen Geschlechts empfinden. Ich muss gestehen, dass ich bei den Jungs eine eher grinsende Reaktion erwartet hätte, und überrascht bin, wie sie tatsächlich reagieren. „So how do we treat someone with other sexual preferences?“, frage ich. „With respect“, erwidert Sachin. Die anderen nicken. Mehr will ich gar nicht hören.
Nachdem Ajay und ich die Jungs eine Stunde lang mit Informationen überhäuft haben, wundert es mich nicht, dass keine direkten Fragen folgen. Aber: Ich betone, dass Fragen immer möglich sind. Dass es immer möglich ist, Themen, die sie interessieren, anzusprechen. Dass ihnen das anfangs peinlich erscheinen mag, was völlig okay ist, sie aber wissen sollen, dass wir sie ernst nehmen.
Sumsalama berichtet lediglich, dass die Mädchen gut mitgearbeitet haben, aber mir ist schon klar, dass ich die Mädels da kaum werde ausquetschen können. Wäre vermutlich auch nicht angebracht –
aber ich bin froh, dass ein Parallel-Workshop überhaupt möglich war. Wie viel von dem, was wir heute besprochen haben, für die Großen neu war (sowohl Jungs als auch Mädels), weiß ich nicht. Ist
auch irrelevant – geschadet haben ihnen die Informationen sicherlich nicht. Mir ging es auch eher um die Reihe 12-, 13- und 14-Jähriger, die gerade so viele Veränderungen durchmachen und vieles
von dem bislang möglicherweise gar nicht richtig erfassen konnten – und nun vielleicht ein besseres Verständnis davon haben. Ein anderes Ziel habe ich gar nicht verfolgt.
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Cordel (Samstag, 01 August 2015 11:38)
Gut gemacht!
Tiny (Dienstag, 04 August 2015 15:21)
Super gemacht!