Sex Ed – Teil 1

Die Entdeckung der eigenen Sexualität gehört zu den schwierigsten Themen hierzulande. Das rüht vor allem daher, dass Nepalesen eigentlich keine Privatsphäre kennen – hier in den beiden Häusern schon mal gar nicht, aber auch in der durchschnittlichen nepalesischen Familie gibt es so etwas wie Einzelzimmer nicht. Bei unseren Kindern wird sogar in Gruppen geduscht. Die einzige Chance, mal wirklich für sich allein zu sein, ist also die „long toilet“ (nepalesisches Englisch fürs Kacken), bei der mir schon ziemlich früh aufgefallen ist, dass die bei den Kids mitunter bis zu einer halben Stunde dauern kann. Was man ihnen nicht verdenken kann. Sie sind rund um die Uhr im Rudel, Tag und Nacht. Dabei ist es doch ein Grundbedürfnis des Menschen, sich mit den eigenen Gedanken auseinandersetzen zu können, ohne dabei gestört zu werden. Und dann kommt im Jugendalter natürlich noch etwas ganz Wesentliches dazu: Der Körper entwickelt sich, neue Gefühle und Hormone machen sich bemerkbar. Vielleicht erinnert sich der ein oder andere noch, wie unsagbar peinlich es war, als Mama und Papa versucht haben, ein Aufklärungsgespräch zu führen. Und das in unserer fortschrittlich denkenden westlichen Kultur! Ich brauche wohl kaum erklären, welch Tabu dieses Thema in einem Land wie Nepal darstellt.

Ich habe mich in den vergangenen Monaten immer mal wieder gefragt, wie die Jungen und Mädchen damit umgehen. Es gibt in der Schule Sexualkunde, aber ein Blick auf das Material hat bei mir augenblickliche Skepsis hervorgerufen. Und die wirklich heiklen Themen bleiben außen vor. Ich hätte angenommen, dass sich in einer Einrichtung wie dieser die Hausleitung darum kümmert, aber auch die besteht halt aus Nepalesen. Ich sehe es ganz bestimmt nicht als meine Berufung, den Kleinen einen Kulturschock zu versetzen, von dem sie sich nie wieder erholen. Auch bin ich mir selbst unsicher, ob ich a) mich überhaupt anmaßen sollte, das Thema Sexualität offen anzusprechen, b) falls ja, wie das Ganze ausgeht, c) falls nicht, ob es irgendjemand anders jemals tun wird.

Und dann geschieht Folgendes. Es ist ein ganz normaler Nachmittag, die meisten sind mit den Hausaufgaben fertig und spielen im Hof, ein paar sind noch mit Schulsachen beschäftigt. Ich komme hoch in mein Zimmer und stelle erschüttert fest, dass mein Handy weg ist. Ich bin zwar manchmal auch jemand, der seine Sachen irgendwo hinlegt und nicht wiederfindet, aber ich weiß hundertprozentig, dass ich es auf den Schreibtisch gelegt habe. Dann sehe ich, dass die Badezimmertür geschlossen ist. Ich versuche, sie zu öffnen und stelle fest, dass sie von innen verriegelt ist. Hat etwa jemand mein Handy stibitzt, um damit heimlich zu spielen? Ich weiß eigentlich nur von einem Jungen, dass er meinen Entriegelungscode kennt, aber der sitzt unten auf dem Hof und spielt. Ich hole Navaraj dazu, erkläre ihm kurz die Situation und bitte ihn, mein Handy anzurufen. Aber wer auch immer es hat, weiß, wie man einen Anruf ablehnt. Navaraj kommt mit hoch, pocht an die Badezimmertür, und schließlich kommt einer der Jungen heraus, der sich eine ziemlich Unschuldsmiene aufgesetzt hat. Wo mein Handy ist, wisse er nicht. Schließlich finden wir es unten in einem der volunteer-Schlafzimmer auf der Kommode. Ich entriegele es, und ta-daaa: Da hat doch jemand glatt versucht, Sexfilmchen im Internet anzuschauen. (Für mich kommt ganz klar nur einer der Jungen in Frage – was sexistisch ist, dessen bin ich mir bewusst. Es hätte genauso gut ein Mädchen sein können.)

Bekennen will sich natürlich keiner dazu. Ich nehme den Jungen, der meinen Code kennt, unter vier Augen zur Seite, aber er streitet es vehement ab. Auch der Junge, der im Bad war, will nichts damit zu tun gehabt haben. Navaraj trommelt alle zusammen und hält ihnen im ruhigen, aber bestimmten Ton einen Vortrag. Ich versuche, in einem der Gesichter Schuldgefühle zu erkennen, aber es sind ein paar, die peinlich berührt den Blick senken, während die anderen mit großen Augen zuhören, was ihr Hausleiter zu sagen hat. Da Navaraj auf Nepalesisch spricht, wende ich mich selbst noch mal an die Kids. Ich betone, dass es zum einen einfach nicht in Ordnung ist, mein Eigentum an sich zu nehmen. Ich sage, dass mich das enttäuscht und verletzt, weil ich ihnen doch schließlich vertraue, und dass ich hoffe, dass das nie wieder vorkommen wird. „It wonʼt happen again“, murmeln sie im Chor, dabei hat ja nur einer etwas verbockt.

Nun ist mir natürlich die ganze Zeit schon klar, dass der Übeltäter das Handy vermutlich einfach zurückgelegt hätte, damit ich nichts merke, und ich ihm einfach zuvorgekommen bin (wäre natürlich an seiner Stelle klug gewesen, den Browser zu schließen, denn so wäre das Ganze so oder so aufgeflogen). Tatsächlich bereitet mir weniger Sorge, dass jemand an meine Sachen gegangen ist, als die bloße Tatsache, dass er einfach neugierig war und Gefühle hatte, mit denen er einfach nicht umzugehen wusste. Wie viele von uns haben denn heimlich am elterlichen PC im Internet gesurft auf der Suche nach etwas „Aufregendem“? (Sorry, Mama und Papa …) Keine Sorge, ich will hier nichts herunterspielen, aber selbst in der westlichen Gesellschaft ist die Entdeckung der Sexualität so etwas Geheimes und nahezu Peinliches, dass ich mir um meine nepalesischen Kids hier nun noch größere Sorgen mache. Hier gibt es keine Schulhofgespräche zwischen Jungs oder Mädels. Oder Klassenfahrten, in der kichernd Bilder aus der Bravo in Augenschein genommen werden. Hier gibt es keine Väter, die sich mit ihren Jungen hinsetzen und ihnen erklären, was wet dreams sind, was Masturbation ist, dass sexuelle Gefühle an sich gut sind, was Pornografie ist und weshalb sie gefährlich ist – einmal völlig abgesehen von Themen wie vorehelichem und ehelichem Sex, Verhütung und Homosexualität. Natürlich ist hier Fingerspitzengefühl gefragt, denn man kann in der strikten nepalesischen Kultur nicht mit der Tür ins Haus fallen. Aber Themen verschwinden eben auch nicht, wenn man sie einfach verschweigt. Davon gebe ich Zeugnis. :D

Also besuche ich die Apartment-Jungs. Denn die sind von der Schule abgegangen, leben seit einem halben Jahr für sich und sind plötzlich all dem ausgesetzt, ohne dass jemand sie jemals wirklich darauf vorbereitet hat – und auch das kann gefährlich enden. „Es wird peinlich, das verspreche ich euch“, warne ich sie vor, ehe ich sie schamlos ausfrage – wie wird man als nepalesischer Jugendlicher mit Sexualität konfrontiert, wie effektiv ist der Aufklärungsunterricht wirklich. Vor allem: Wovon wünschen sie sich im Nachhinein, dass man sie vor drei oder vier Jahren darüber unterrichtet hätte. Die Jungs sind sehr viel offener, als ich es erwartet habe, und drucksen nicht herum. Was mich besonders erleichtert: Sie sind ziemlich abgeklärt, was sie, wie sie selbst berichten, ehemaligen volunteer-Ehepaaren verdanken, die im Grunde genau das gemacht haben, was ich ebenfalls vorhabe: Die Frau hat sich die Mädchen geschnappt, der Mann die Jungs, und dann wurde offen über alle diese Themen diskutiert. „Es war anfangs schon ziemlich komisch“, berichten sie, „aber nach und nach wurde die Atmosphäre entspannt und wir haben viele Fragen gestellt. Auch im Nachhinein.“ Das ist ja auch letztlich nur, was ich will – dass sie wissen, dass sie darüber sprechen können, wenn sie wollen. Mir tut es natürlich leid, dass bei mir die Mädels etwas zu kurz kommen werde , aber ich kann ganz sicher keine Aufklärungsstunde mit denen durchführen. Vielleicht erklärt sich eine der neuen Praktikantinnen, die im Laufe der nächsten Monate eintrudeln, dazu bereit, denn für Mädchen ist es sicherlich genauso wichtig, über die Veränderungen ihres Körpers aufgeklärt zu werden wie für Jungs.

Ich spreche mit Navaraj und frage ihn, ob es in Ordnung ist, am Freitag kommender Woche eine boysʼ night durchzuführen. Ich möchte, dass er dabei ist, und ich möchte auch Ajay einbeziehen, da dieser zum einen Biolehrer ist, zum anderen aber eben auch Nepalese und gegebenenfalls intervenieren kann, wenn Herr Materns Schamlosigkeit mal wieder keine Grenzen kennt. Wir drei Erwachsenen und die Jungs unter uns. Eine taktvolle, aber offene Runde über Sexualität. Ich merke Navaraj an, dass er sich nicht hundertprozentig wohl fühlt bei dem Gedanken, aber er stimmt zu. Ajay hingegen ist Feuer und Flamme. „I AM SO IN!“, schreibt er mir unverzüglich.

Am Freitag kommender Woche soll es soweit sein. Ich bin selbst gespannt, wie peinlich oder ungezwungen das Ganze ablaufen wird – und werde dann in Teil 2 dieses Blog-Beitrags darüber berichten.

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Kommentare: 2
  • #1

    Ajaya (Mittwoch, 22 Juli 2015 09:01)

    I think i need one of the copy in english too..

  • #2

    Schwester Cordel (Donnerstag, 23 Juli 2015 11:07)

    Wichtiges Thema! Ich bin total gespannt auf Teil 2! Kinder müssen einfach wissen, dass Sexualität etwas Natürliches ist und nichts was eklig, pornografisch oder abstoßend ist. Gerade in heutiger Zeit ist Aufklärung total wichtig, finde ich. Meine Handballmädchen haben immer das große Gekicher angefangen, wenn ich bei Ausfahrten zum "Kondomgespräch" gebeten habe