Nachwuchs

Subash und sein kleiner Bruder Sagar sind die neuesten „brothers“ in Gongabu.
Subash und sein kleiner Bruder Sagar sind die neuesten „brothers“ in Gongabu.

Morgen sind genau zwei Monate seit dem ersten Erdbeben vergangen. In gewisser Weise ist die Routine wiederhergestellt – die Kinder gehen zur Schule, die Geschäfte haben wieder auf, alles nimmt seinen normalen Lauf. Aber geht man ins Touristenviertel Thamel oder in fährt in eine der umliegenden Städte, findet man völlige Leere vor. Weiße kann man an einer Hand abzählen. Als wir whitewater rafting auf dem Trishuli buchen, erfahren wir, dass wir die ersten (!) Kunden seit den beiden Beben sind. Klar beginnt nun auch der Monsun und die Trekking-Saison hat Pause – nichtsdestotrotz haben die Nepalesen, deren Lebensunterhalt vom Tourismus abhängig ist, hart zu kämpfen. Leo und Gwen (und zwei Wochen später auch Lukas und seine Schwester, die zu Besuch kommt) machen einen Abstecher nach Pokhara, einer Stadt 200 Kilometer westlich von Kathmandu im Zentrum des Landes – eigentlich ein Touristenmagnet, da traumhafte Lage am See. Doch sie berichten, dass die Stadt wie ausgestorben ist: In Cafés und Restaurants, die auf 200 Gäste angelegt sind, haben sie allein gespeist. Momentan will keiner mehr nach Nepal kommen.

Liebesbeweis einer Schwester an ihre Brüder: rechts Gocool, links Raj Kumar und Dibisha
Liebesbeweis einer Schwester an ihre Brüder: rechts Gocool, links Raj Kumar und Dibisha

Der Alltag mag also wieder losgegangen sein, aber Verluste sind Verluste. Ähnlich verzweifelt berichtet auch Durga von der Situation des Trekkingbüros, das er mit Gocool geführt hat, der beim ersten Erdbeben ums Leben gekommen ist (und der eigentlich „Gokul“ geschrieben wird, die Schreibweise für seine Kunden aber wohl bewusst änderte – vermutlich fand er „Gocool“ buchstäblich cooler). Durga sitzt nun allein auf dem Unternehmen, muss mit dem Schmerz fertig werden, einen seiner besten Freunde verloren zu haben, aber eben auch seinen Geschäftspartner. Er muss sich um alles allein kümmern, und das, wo es noch so denkbar schlecht läuft – denn trekken will momentan niemand und die Bergtouren ins Himalaya sind bis Jahresende ohnehin gesperrt. Noch schlimmer ist es für Gocools Angehörige: Seine Schwester Dibisha, der ich Nachhilfe in Englisch und Deutsch gebe, wirkt immer gefasst, wenn wir uns sehen, aber auf Facebook lese ich oft schmerzerfüllte Kommentare, wie sehr sie ihren großen Bruder vermisst. Nicht nur das: Gocool war der Alleinversorger der Familie. Die Eltern wohnen im (durch das Erdbeben zerstörten) Dorf, der Vater ist verkrüppelt und kann nicht arbeiten. Gocool hat seine beiden jüngeren Geschwister der Ausbildung wegen in die Stadt geholt, nun kann er sie aber nicht mehr versorgen; wie es weitergeht, wird sich noch zeigen müssen. Es war sein Wunsch, dass Dibisha als Au-pair ein Jahr nach Deutschland kommt, und hoffentlich lässt sich wenigstens das verwirklichen (das ist übrigens nicht nur dahingesagt, sondern ein Aufruf an alle Leser im deutschsprachigen Raum – also falls jemand wen kennt … bitte melden!)

Doch nicht nur die direkte Familie ist betroffen: In dem kleinen Heimatdorf Nagarkot war Gocool der Einzige mit einem geregelten Einkommen. Sein Ziel war es, neue Jobs zu schaffen, damit es den Einwohnern des Dorfes besser geht. Unter anderem heuerte er einen Mann als Porter für sein Trekking-Geschäft an. Dieser hatte vorher Touren in Indien fernab von seiner Familie durchgeführt –und auf diese Weise konnte er zurück nach Nepal, bei seiner Familie sein, hatte ein gutes Einkommen. Tragischerweise war seine allererste Trekking-Tour in Nepal auch seine letzte: Gemeinsam mit Gocool kam er bei dem Erdrutsch in Langtang ums Leben. Gocools Heimatdorf wurde ebenfalls völlig zerstört – fast ironischerweise mit Ausnahme von Gocools Haus, das als einziges noch steht.

Nagarkot ist also dem Erdboden gleich; der Einzige, der solides Geld verdient hat, tot. Welch Glück, dass der Verein dank der großzügigen Spenden nicht nur imstande ist, beim Wiederaufbau des Dorfes zu helfen: Die beiden Söhne des verstorbenen Porters, für die die Mutter momentan einfach nicht mehr sorgen kann, können bei uns aufgenommen werden. Subash und Sagar sind – eigentlich wie alle Kids – zwei Jungs, die man vom ersten Augenblick ins Herz schließt. Als sie mit ihrer Mutter und auch mit Dibisha und deren Mutter und Onkel nach Dhapasi kommen, sind sie erst einmal zurückhaltend und schüchtern, wie man es wohl auch nicht anders erwarten würde. Als ich sie begrüße, frage ich mich, was wohl in ihnen vorgeht – verstehen sie, dass es letzten Endes zu ihrem Besten ist, dass sie herkommen? Wie tief sitzt der Schmerz noch über den Verlust ihres Vaters? Wie schrecklich wird für sie der Abschied von ihrer Mutter sein? Subash ist fast 15, jedoch sehr zierlich, dass man ihn kaum auf älter als 11 oder 12 schätzen würde. Sagar eben wohl in genau diesem Alter, wirkt aber wiederum eher wie 8. Obwohl Subash vom Alter her nach Dhapasi gehört, geht er mit Sagar nach Gongabu – zum einen ist es gut, wenn die beiden Brüder nicht voneinander getrennt werden, zum anderen ist Subash ein typisches Opfer der mangelnden Schulbildung in den Dörfern. Er wird erst einmal auf Klasse 5 zurückgestuft. Dann wird geschaut, wie gut er mit dem Lernstoff zurechtkommt. Den Abend jedoch verbringen die Brüder in Dhapasi, werden umschwirrt von den anderen Jungs, die sich unaufgefordert um sie kümmern – denn jeder kennt das Gefühl, neu zu sein. So tauen die beiden in Windeseile auf, und aus dem schüchternen Lächeln wird ein herzliches Grinsen.

Lukas übt mit Sagar lesen
Lukas übt mit Sagar lesen

Morgens gibt es dann doch Tränen bei Subash – sicherlich die Erkenntnis, dass nun ein Bruch entsteht und ein völlig neues Leben beginnt. Das ist normal und verständlich und bricht einem trotzdem das Herz. Immerhin zeigt die Erfahrung, dass sich die Neuankömmlinge schnell anpassen und an das neue Leben gewöhnen. Da Gwens und Leos Zeit sich dem Ende näher, begleite ich Leo und Lukas morgens wieder zum Lernen nach Gongabu, nachdem ich nach Beginn der Schule in Dhapasi geblieben und mit Manisha und Shioba gelernt habe. Sagar wird Lukas zugeteilt, Subash mir. Die Defizite sind schnell auszumachen: Während Sagar kaum Englisch spricht oder liest, kann man sich mit Subash zumindest mündlich einigermaßen verständigen. Es geht nun vor allem darum, dass er lesen und schreiben übt. Gleich der erste Text ist eine Herausforderung, allerdings verständlicherweise, denn er muss ausgerechnet eine Abhandlung über die verschiedenen Arten von Wirbeltieren und wirbellosen Tieren pauken – der Text ist gespickt von lateinischen Namen, von denen ich selbst nicht weiß, wie man die auf Englisch akkurat ausspricht. Subash hat Mühe, voranzukommen. Wie viele Erst- und Zweitklässler buchstabiert er Wörter, die er nicht kennt, zunächst laut, ehe er einen Versuch wagt, sie auszusprechen. Das klappt trotzdem selten richtig, aber wenn ich dann etwas vorspreche, kann er es relativ gut nachsprechen, und nicht nur das: Taucht der gleiche Begriff erneut auf, erinnert er sich und macht es in vielen Fällen richtig (etwas, wozu nicht jeder hier in der Lage ist). Diese gute Erfassungsgabe lässt also hoffen, dass er keine allzu großen Schwierigkeiten haben wird, in der Schule den nötigen Lernstoff aufzuholen.

Auch Aayush (links) und sein kleiner Bruder Aashish sind erst seit kurzer Zeit in Gongabu. Sie bringen ihre eigene tragische Geschichte mit, auf die ich vielleicht ein andernmal eingehe. Ähnlich wie bei Subash und Sagar ist zu beobachten, dass es meist der Ältere ist, der die Tränen vergießt und vom jüngeren Bruder getröstet werden muss. Ich hätte das ja eher andersrum erwartet, aber möglicherweise spürt der Ältere, dass er nun auch noch eine Verantwortung gegenüber dem Kleineren hat, was für ein Kind oder einen Jugendlichen in dem Alter erst einmal ein schwerer Brocken sein kann. Vielleicht ist dem Älteren auch eher bewusst, was gerade im Land geschieht – und dass der Großteil Nepals zwar dem Alltag wieder nachgeht, die schweren Konsequenzen des Erdbebens, die schwere Depression, die in der Luft hängt, jedoch nicht einfach so ausgemerzt werden können. Viele schauen zuversichtlich nach vorne, aber die Last ist ihnen trotzdem anzusehen. Beni, einer der Apartment-Jungs, fragt mich eines Abends verzweifelt: „So many problems, brother, so many problems. What can I really do?“ Ich kann nur erwidern: „It sounds like the lamest, cheesiest advice ever – but you must never lose hope. When everything else fails, always believe that somewhere, somehow there is something good waiting for you.“ Beni nickt. „Yes“, stimmt er nachdenklich zu. „That is actually what keeps me going on …“

Ihn und Subash und Sagar und Aajush und Aashish und Gocools Familie und alle anderen hier im Land.

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