Ich merke, wie ich teilweise am Ende meiner Kräfte bin. Ich habe seit zwei Monaten nicht ausgeschlafen. Draußen herrschen 31°C schwüle Hitze, nirgendwo in der Stadt gibt es Klimatisierung. Die Kids hatten seit rund einem Monat keine Schule, und statt „nur“ 34 Jugendlichen haben wir die Gesamtzahl von 79 auf einem Fleck, wobei die Kleineren natürlich noch mal lauter sind als die größeren. Der Lärm beginnt morgens um 5 Uhr und ebbt abends gegen 20 Uhr ab, wenn wir Erwachsenen todmüde ins Bett fallen. Ich habe meine Privatsphäre komplett aufgegeben (außer vielleicht auf Klo). Versteht mich nicht falsch: Ich liebe die Kids. Aber als ich hergekommen bin, habe ich nicht damit gerechnet, sieben Tage die Woche rund um die Uhr Betreuung leisten zu müssen – und das für so viele. Als ich nach der ersten Hilfsaktion im village heimkomme, ist es noch nicht so spät und die Großen sind noch wach. Ich bin völlig erschöpft von der langen Busfahrt und der Hitze. Ich will nur kurz ein paar Sachen am PC erledigen und dann so schnell wie möglich ins Bett. Aber kaum sitze ich am Computer, werde ich von fünf Jungs umschart. Was ich mache, wie mein Tag war, was sie gemacht haben. Geduldig bemühe ich mich, auf jeden einzugehen, denke dabei jedoch nur: „Nur fünf Minuten Ruhe, Jungs, nur fünf Minuten …“
Und plötzlich packt mich das schlechte Gewissen. Was bin ich eigentlich für ein Jammerlappen? Ob es so ähnlich Müttern und Vätern geht, die abends von der Arbeit kommen und ihre Beine hochlegen
möchten und von ihrem Bienenschwarm an Kindern umsummt werden, die Aufmerksamkeit brauchen? Es stimmt, ich habe mit den Umständen, die hier gerade herrschen, nicht gerechnet – aber ich habe mit
vielem nicht gerechnet. Weder mit Erdbeben noch mit der Tatsache, wie viel mir die Zeit hier wirklich bedeuten würde. Es ist zwar wichtig, auch mal innerlich runterfahren zu können, aber die Zeit
dafür ist sicherlich nicht, wenn Kinder, die kaum erwachsene Bezugspersonen haben, Aufmerksamkeit brauchen. Je mehr ich darüber nachdenke, desto weniger wichtig erscheint mir mein albernes
Lamentieren. Und wieder einmal merke ich: Wenn ich die eigenen Sorgen über Bord werfe und mich den Kindern widme, kommen mir alle eigenen Probleme nur sekundär vor. Jede Minute, die ich mit den
Kids verbringe, ist wie Medizin für die Seele.
Außerdem fangen wir volunteers uns gegenseitig auf, was ebenfalls hilft. Anna und Gwen haben nach wie vor tolle Ideen, wie wir dazu beitragen können, den Tag für die Kids mitzugestalten, und gerade diese Aktivitäten stärken den Zusammenhalt von allen. Aufgrund der schieren Masse ist es bei den meisten Spielen besser, die Kids in Gruppen einzuteilen, damit wir die Übersicht nicht komplett verlieren. Die Spiele variieren von aufwändigen Geländespielen und Schnitzeljagden bis zu etwas einfacheren Staffelläufen wie diesem hier: Beide Gruppen erhalten einen kleinen Behälter und haben fünf Minuten Zeit, nacheinander das Wasser aus einer Wanne in einen Eimer zu transportieren. Wessen Eimer dann mehr Wasser enthält, hat gewonnen. Spiele mit Wasser sind bei der Außentemperatur ohnehin für alle angenehm, denn die anschließende Abkühlung ist vorprogrammiert.
Der neueste Dauerbrenner ist Carrom, eine Art Fingerbillard. In Gongabu gab es bereits zwei Carrom-Spielfelder, im Zuge des Erdbebens wurden nun zehn weitere Bretter angeschafft, damit sich die
Kids damit die Zeit vertreiben können. Klassisch spielt man wohl zu zweit, aber hier sitzen sie immer zu viert an einem Spielfeld, damit so viele wie möglich mitspielen können. Ziel ist, die
Spielsteine mit dem Finger in die Ecklöcher zu schnipsen. Das klingt übrigens sehr viel einfacher als es ist – wir Deutschen tun uns ungeheuer schwer damit. Nicht nur eine wirklich gerade Linie
hinzubekommen, erfordert Skills, sondern auch genau die richtige Kraft, damit der Stein nicht an der Ecke abprallt oder gar nicht erst ankommt. Die Kleinen hingegen legen eine unglaubliche
Präzision an den Tag, allerdings ist Carrom sogar ein Nationalspiel, das sie schon im frühen Alter lernen. Und sie sind überaus geduldig und lehrwillig, wenn man sich dazusetzt –
freuen sich sogar, einem das Spiel beizubringen, und motivieren unentwegt. Wenn es mir gelingt, einen Stein zu versenken, springen sie auf und jubeln. Bei jedem, den ich versemmele, klopft mir
Bikash sachte auf den Oberschenkel. „No problem, uncle, no problem. Next time better. Next time better.“
Der Fußballplatz ist ja bekanntermaßen ein Multifunktionsplatz – neben Fußball, Basketball und Volleyball wird dort auch gern Cricket gespielt, einer Sportart, die wohl irgendwie mit Baseball verwandt ist (und auf mich genauso langweilig wirkt). Aber seitdem es dem nepalesischen Nationalteam vor wenigen Monaten überraschenderweise gelungen ist, sich für die ICC World Cricket League Championship zu qualifizieren (aus der wiederum die Qualifikation für die nächste WM-Vorrunde hervorgeht), ist Cricket in Nepal beliebter denn je. Das muss nun ausgenutzt werden, und so sieht man auf vielen freien Feldern und Sportplätzen überall in Kathmandu junge Kerle an ihren Cricket-Fertigkeiten arbeiten – könnte ja schließlich sein, dass sie mal Profisportler werden. Ein Traum, den hier sehr viele Jungs hegen – aber solche Träume sind bei Jungen in dem Alter vermutlich etwas Universales (die meisten Mädchen wollen, wen wundertʼs, Sängerin oder Schauspielerin werden).
Nichtsdestotrotz gönnen Gwen und ich uns eine vormittagliche Auszeit und nehmen in Thamel an einem Kochkurs teil. Der „Nepali Cooking Course“ ist ein kleines Familienunternehmen – der Vater
managt, die Kinder kochen. Wir erfahren, dass der Kurs seit sechs Jahren angeboten wird und, seitdem eine deutsche Touristin ihn auf TripAdvisor stellte, sogar fabelhaft läuft, was die
Gästebücher uns belegen. Seit zwei Jahren hat fast jeden Tag einer stattgefunden – bis das Erdbeben kam. Wir sind erst die dritte Kundschaft seit einem Monat. Um so herzlicher werden wir jedoch
empfangen – Amrit, der Vater, trifft uns in der Stadt, läuft mit uns über den Marktplatz, ehe es zu ihm nach Hause geht, wo im dritten Stock in der Küche bereits die meisten Zutaten bereit
stehen. Seine Tochter Anu führt uns schrittweise durch die Basics der nepalesischen Küche: Es gibt Momos (quasi nepalesische Maultaschen), das klassische Dal Bhat und als Nachtisch Reispudding
(ähnlich wie Milchreis, aber etwas würziger) und Celebration Bread (frittierte Teigringe).
In einer Zeit, wo im Land so viel zerstört ist, schadet es auch nicht, ein paar Schönheitsarbeiten durchzuführen. Unser Sportplatz wird umrundet von ein paar Backsteinmauern, von denen wir eine gemeinsam mit den Kids anstreichen wollen. Zuerst wird sie weiß fundiert, ehe jeder einzelne der Wand seine ganz persönliche farbige Note verleihen darf. Nur die rechte Seite ist reserviert für eine Weltkarte, die mit den Handabdrücken aller gefüllt wird nach dem Motto „We are the world“ – ein Lied, das wir derzeit auch gerade mit ein paar Kids einüben. Es geht ans Herz, denn nachdem wir den Ursprung des Songs erklären, stellt sich gleich eine andere Atmosphäre ein. Und so wie die Kids hoffentlich langsam schnallen, dass sie die Zukunft eines Landes bilden, das noch viel Fortschritt braucht, schnalle auch ich, dass die Zeit viel zu schnell vergeht und ich jeden Augenblick nutzen sollte – das heißt manchmal auch nur, danebenzusitzen und zu chillen, während die Jungs die Schulhefte vorbereiten, oder mit Anna und Lukas Skat zu spielen, während um uns herum Carrom gespielt wird. Einfach das Gefühl zu vermitteln: „Hey, ich bin hier. Wenn du mich brauchst, bin ich da. Ich hab dich lieb.“
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Mama und Papa (Sonntag, 31 Mai 2015 20:43)
Gib nicht auf, auch wenn es mit den Wochen schwerer wird alle Entbehrungen zu ertragen. Du bist schließlich in einem Land aufgewachsen, in dem Wohlstand herrscht, es kaum große Katastrophen gibt und Frieden seit Jahrzehnten herrscht. Das kann man nicht einfach so abschütteln, deshalb ist es normal, wenn der eine oder andere Durchhänger kommt. Die Liebe, Hoffnung und Zuversicht, die du den Kindern vermittelst, wird dir immer wieder Motivation geben, denn auch du spürst ihre Liebe für dich. Halte durch, wie beten weiter für dich und die Kinder und viel andere auch!