Innere Beben

Der neue Schlafplatz auf dem Sportplatz. Die Zelte rechts daneben und auch hinter dem Zaun gehören den Nachbarn, die auf unserem Grundstück Zuflucht gesucht haben.
Der neue Schlafplatz auf dem Sportplatz. Die Zelte rechts daneben und auch hinter dem Zaun gehören den Nachbarn, die auf unserem Grundstück Zuflucht gesucht haben.

Also es ist ja nicht so, dass niemandem bewusst war, es könne weitere Beben geben (immerhin ist der schlafende Drache unterm Horizon noch nicht vollends erwacht …). Trotzdem haben wir uns so schnell (und so gern) an die rückkehrende Normalität gewöhnt, dass das Nachbeben der Stärke 7.3 doch etwas unerwartet kommt. Lukas und ich machen vormittags mit den Kids Gruppenspiele auf dem Sportplatz und spielen anschließend noch ziemlich lange mit einigen Jungs Volleyball. Es soll eine Verschnaufpause vor dem Fernseher geben, wobei ich noch ein paar letzte Kräfte sammele und eine halbe Stunde Sport mache, kurz ausschwitze und mir dann im Bad alles für die Dusche zurechtlege. Der Boiler funktioniert, aber ich will bewusst kalt duschen, bei den schwülen 30 Grad draußen ist mir jede Abkühlung recht. Als ich das Bad betrete, wackelt es erst leicht – also warte ich ab und zähle wie immer bis drei. Doch da fallen die ersten Duschgels aus dem Regal, und es wird spürbar heftiger. Ich laufe raus in den TV room. Die meisten Kids sind bereits nach draußen gelaufen, ein paar hocken noch auf dem Boden – nicht aus Angst, sondern weil sie gehört haben, dass es gefährlicher ist, im Haus herumzulaufen. Ich wäge kurz ab, was zu tun ist, da ist das Beben vorbei. Ich schicke den Rest nach draußen auf den Sportplatz. Der erste Blick gilt dem Horizon, das es aber irgendwie schafft, immer noch zu stehen. Binnen Minuten gesellt sich die Nachbarschaft zu uns. Ich möchte heulen – gar nicht aus Angst oder Sorge, sondern weil mir klar wird, dass der kurze Ausflug in die Normalität schlagartig vorbei ist.

Die Nepalesen ertragen das alles äußerst tapfer. Die Atmosphäre ist weitaus gelassener als vor 18 Tagen. Telefonnetz und Internet brechen nicht zusammen, wir verbuchen lediglich einen kurzen Stromausfall am Nachmittag. In kürzester Zeit wird aus Zeltplanen und Bambuspflöcken eine große Notunterkunft auf dem Sportplatz errichtet, unser neuer Schlafplatz. Die Kleinen aus Gongabu treffen ein, und diesmal heißt es, ihr Aufenthalt werde mindestens eine Dauer von zwei Wochen haben, eher noch einen Monat. Denn die Gefahr eines dritten Erdbebens ist den Nepalesen zu groß – um 1990 folgte nach genau 18 Tagen nämlich schon mal ein zweites heftigeres Erdbeben auf das erste und dann 21 Tage später noch mal eins. Für die Einheimischen ist das nahezu ein Beweis dafür, dass in genau drei Wochen noch eines kommen wird. Schnell kommt im Radio auch die Durchsage, dass der Schulstart vom 14. Mai auf den 30. Mai verlegt wird.

Wir volunteers genießen jede Sekunde, die wir gemeinsam haben. Es ist auch schön, dass die Kinder zusammen sind. Aber wie sollen die armen Kids wieder in ihren Alltag finden? Das Schuljahr hat vor einem Monat begonnen und bislang hatten sie erst fünf Tage Schule. Wir alle haben den Eindruck, dass wir in Sicherheit sind – Angst vor einem Hauseinsturz oder dass jemandem was passiert, besteht eigentlich nicht, auch wenn wir natürlich vorsichtig sein wollen und müssen. Der Ausnahmezustand ist es, der uns eher Angst bereitet.

Und das ist nicht unsere einzige Sorge. Denn angesichts der für alle hochemotionalen Krise kommen auch innere Konflikte zutage, die sich im Laufe der Wochen immer stärker angestaut haben. Was man nicht vergessen darf: Wir volunteers sind Deutsche, die von Pädagogik ein grundsätzlich völlig anderes Verständnis und Konzept haben. Navaraj, seine Eltern und seine beiden Geschwister hatten zum einen keine pädagogische Ausbildung, was großen Respekt verdient, wenn man bedenkt, um wie viele Kids sie sich hier kümmern. Sie schmeißen den Laden verständlicherweise so, wie sie es für richtig halten, zum anderen sind sie Nepalesen und haben eine Mentalität, die der deutschen so gut wie gar nicht gleicht. Das gilt für positive Aspekte, aber leider auch für ein paar schwierige: Wie ich schon in einem anderen Blog-Eintrag berichtete, tragen Nepalesen keine offenen Konflikte aus. Streit wird verdrängt, und Jüngere kuschen grundsätzlich vor den Älteren. Diese Art von Respekt wirkt auf uns Deutsche jedoch schon so, dass die Kinder teilweise aus Angst agieren, damit es keinen Anschiss gibt. Bestes Beispiel sind die Großen aus den Apartments: Nach einem bis aufs kleinste Detail durchgeplante Leben in der Einrichtung ohne jegliche Form von Individualität wurden die Jungs und Mädels mit 18 Jahren ins kalte Wasser geworfen und müssen nun eigenständig lernen, ihr Budget verwalten, ihren Platz im Leben finden. Wenn Ellen Nepal besucht, ist sie sehr darauf bedacht, sich um die Großen zu kümmern und ihnen zu helfen, auf eigenen Beinen zu stehen. Navaraj und seine Familie sind mit dieser Aufgabe hingegen überfordert – so sehen sie zwar, dass es den großen Kids mitunter eben nicht gelingt, das Lernen und den Umgang mit Geld auf die Reihe zu bekommen, aber anstatt dass sich beide Seiten zusammensetzen und arrangieren, verhärten sie sich gegeneinander. Nun, angesichts der Erdbeben-Krise, sollten alle zusammenhalten und sich umeinander kümmern – aber die Großen wollen eigentlich nicht zu uns kommen, weil sie sich vernachlässigt fühlen, die Hausleitung hingegen befürchtet, die Großen könnten einen schlechten Einfluss auf die Kleinen haben. Im Kreuzfeuer stehen ein paar deutsche Praktikanten, die gern intervenieren wollen, es aber nicht so recht können, denn letztlich sind wir die „reichen Weißen“, die vom nepalesischen Leben gar keine Ahnung haben. Und wie käme ein 19-jähriges deutsches Mädchen schon auf den dreisten Gedanken, einem 30-jährigen nepalesischen Mann Vorschläge zu unterbreiten? (Ja, von mir vielleicht schon eher, aber auch hier besteht die Gefahr, dass es falsch ankommt.) Wir spüren, wie sich die Anspannung zuspitzt und würden gern eingreifen, wissen aber weder, ob das unsere Aufgabe ist noch ob unsere Hilfe gewollt wird. Glücklicherweise kann uns Ellen per E-Mail ein wenig zur Seite stehen, mit der wir im regen Kontakt stehen. Am liebsten wäre uns ja eine große intervention, aber sowas wäre eben auch eher der deutsche Weg – und wir wollen uns weder aufdrängen noch das Gefühl vermitteln, das Zepter aus der Hand reißen zu wollen. Auch liegt uns am Herzen, Harmonie zu wahren, aber uns ist eben auch bewusst, dass Konflikte nicht verschwinden, bloß weil man sie ignoriert.

So gibt es äußere und innere Beben, und jedes davon bringt eigene Herausforderungen mit sich. Wichtig ist natürlich, dass es letztendlich den Kindern gut geht, und dem ist auch so, aber auch sie werden der Einrichtung eines Tages entwachsen und ihr eigenes Leben führen müssen, und es wäre natürlich wichtig, dass sich die Problematik nicht immer wiederholt, sondern eine dauerhafte Lösung gefunden werden kann.

Im Übrigen schrumpft die Gruppe der volunteers immer mehr, und der Abschied fällt sehr schwer: Nachdem uns Pia und Nina vergangene Woche verlassen haben, fliegen nun Louisa und Nadine – Nadine war immerhin zehn Monate hier und hat nach dem ersten Beben und den schrecklichen Erlebnissen in den Bergen sowie den Folgen für ihre Familie noch tapfer durchgehalten, damit sie sich gebührend von den Kindern verabschieden kann. Louisa hat acht Monate hier verbracht. Zum Abschied gibt es Süßigkeiten – unter anderem echtes deutsches Nutella* auf Naan –, viele Umarmungen und natürlich Fotos. Anna, Gwen, Leo, Lukas und ich halten nun die Stellung und sind eigentlich um so glücklicher, dass wir derzeit alle beisammen sind, auch wenn die Umstände nicht unbedingt die besten darstellen.

*Ja, ich sage DAS Nutella, wie es sich gehört, ihr niederen Kreaturen!

Wie bewältigen wir nun also innere Beben, wenn sich gerade keine Lösung bietet? Verdrängung bringt schließlich nichts. Allerdings bin ich fest davon überzeugt, dass es jede Last erleichtert, positive Gedanken zu haben und sich auf das Wohl anderer zu konzentrieren. Was ist also naheliegender als der Fokus auf die Kids? Anna hat die tolle Idee, ein paar Geländespiele vorzubereiten, die wir über die nächsten Tage verteilen, damit der Tagesablauf auch etwas abwechslungsreicher gestaltet wird. Also schauen wir am Vormittag mit allen gemeinsam Disneys „Frozen“ (die Kleinen kennen den Film noch nicht), nachmittags teilen wir die Kids in kleinere Gruppen und geben ihnen Aufgaben, die sich (zumindest wenn man ein Auge zudrückt) so ein klitzekleines bisschen auf den Film beziehen. So singen mir zehn Gruppen – wie sollte es auch anders sein? – „Do you want to build a snowman“ vor. Das Ergebnis kann ich euch doch nicht vorenthalten, auch wenn ich von niemandem erwarte, sich durch alle zehn Videos durchzuklicken. Andererseits ist jedes einzelne dieser liebevollen Gesichter die Zeit wert, unabhängig davon, wie unmelodisch das Ganze auch klingen mag (und außerdem seht ihr den neuen Sträflingshaarschnitt der Jungs, den ich einfach nur furchtbar finde, aber zum Glück wächst es ja nach …) Allein Himals leidenschaftliche Leistung inklusive des inbrünstigen „WHYYYY“ in #10 lohnt sich. :)

Und so merken wir volunteers, dass es auch innere Beben der positiven Art gibt – denn die gemeinsame Freude, die wir mit den Kids verleben, führt zu einer Glückshormonausschüttung, die jedes Problem überwiegt. 

Oben: Lukasʼ Spiel lautete „Schlittenfahrt“. Alle Kids der Gruppe mussten auf unsere Gemüsekarre bis auf zwei, die geschoben haben. Unten rechts erkennt man auch Navarajs schönes Pfeilchen, dass er sich heute durch einen unglücklichen Sturz selbst verpasst hat.

Unten: Please sing along! :)

 

Do you want to build a snowman?

Come on, letʼs go and play!

I never see you anymore,

come out the door,

itʼs like youʼve gone away!

We used to be best buddies

and now weʼre not,

I wish you would tell me why …

Do you want to build a snowman?

It doesnʼt have to be a snowman …

(Go away, Anna!)

Okay, bye …

 

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