Ich hätte nie gedacht, …

… dass es jemals zur abendlichen Routine gehören würde, mir mit einer Hartplastikbürste im lauwarmen Laugenwasser die Füße zu schrubben, natürlich mit der Gewissheit, dass sie bereits auf dem Weg ins Schlafzimmer wieder staubig werden.

… dass Restaurantbesuche jemals komisch für mich sein würden, weil ich es nicht mehr gewohnt bin, mit Besteck zu essen.

… dass es mir so leicht fallen würde, auf Filme und Serien zu verzichten.
… dass ich mir jemals mit 34 ein kleines Zimmer mit zwei fünfzehn Jahre jüngeren Jungs teilen würde, nur um festzustellen, dass es mir überhaupt nichts ausmacht.

… dass ich jemals eine ernsthafte Zuneigung zu einem Hund entwickeln würde.

… dass kalt duschen jedes Mal erneute Überwindung kostet, dann aber gar nicht sooo schlimm ist.

… dass ich jemals irgendjemandem Geometrie erklären muss. Und kann.

… dass ich jemals mit einem Haufen Jungs stundenlang Fadenspiele spielen würde, ohne dass mir langweilig wird oder ich es in irgendeiner Hinsicht affig finde.

… dass ich jemals im Essen einen kompletten Hühnerkopf und Hühnerfuß vorfinden würde, nur um festzustellen, dass Hühnerkamm eigentlich ziemlich zart und schmackhaft ist.

… dass der härteste Steinboden bequemer ist als jede noch so exquisite Matratze, wenn sich von jeder Seite liebevolle Kinder an einen kuscheln.

… dass ich in einem Gottesdienst kein einziges Wort verstehe und trotzdem spüre, dass jedes gesagte Wort wahr ist.

… dass ein zartschmelzender Lindor-Schokoladenriegel, der seltsamerweise nicht überteuert ist, einem das Gefühl gibt, dass sich gleich der Himmel öffnet und man im Bruchteil einer Sekunde erhöht werden wird.

… dass der Roman zwar spannend ist, ich aber trotzdem um 20:30 Uhr das Licht ausknipse, einfach weil ich mich so sehr auf meinen Schlaf freue.
… dass der Hintern jemals aufhören würde zu brennen.

… dass ich jemals einen Granatapfel aufbrechen würde, indem ich einfach reinbeiße und ohne Rücksicht auf Farbtupfer die Kerne rausfresse.

… dass mir der Granatapfelsaft, der aus den Kernen tritt, die Haut unter den ohnehin schon schmutzigen Fingernägeln so schwarz färben würde, dass ich zwar täglich schrubbe, mich aber damit abfinde, nun endgültig zur Sorte Mann mit dreckigen Fingern zu gehören.

… dass es am Ende des Tages kaum ein schöneres Gefühl gibt, als zwanzig Jungs einen Kuss auf die Stirn zu drücken und sich bereits darauf zu freuen, sie am nächsten Tag wiederzusehen.

… dass ich jemals denken würde, Waschmaschinen seien überbewertet.

… dass ich erkennen würde, dass Flecken in den Klamotten eigentlich nicht dramatisch sind und ich dankbar sein sollte, aus fünf verschiedenen T-Shirts auswählen zu können.

… dass ich mir vorstellen würde, wie meine Mama irgendwo in sich hineingrinst, weil ich mit Halbwüchsigen Scrabble und Solitär spiele.

… dass sich mein Körper derart an das Gefühl von Erdbeben gewöhnen würde, dass ich sie nicht mehr wahrnehme und abends verwundert erfahre, es habe tagsüber acht Nachbeben gegeben.

… dass Kakerlaken jemals Gleichgültigkeit bei mir auslösen würden.

… dass ich mich so sehr an nächtliches Hundegekläffe und Hahnengeschrei gewöhnen würde, dass ich ohne Ohrenstöpsel tief und fest durchschlafen kann.

… dass ein leicht durchschaubarer Kartentrick auch nach einer halben Stunde noch nicht langweilig ist, wenn der Zauberkünstler so enthusiastisch dabei ist.

… dass ich im Badminton von Achtjährigen haushoch besiegt werden würde.

… dass die Nachricht, das OR2K habe den Mushroom Burger von der Speisekarte genommen, hilflose volunteers an den Rand der Verzweiflung stürzen würde.

… dass ich eine Stunde damit zubringen würde, zehn Jungen zuzuschauen, wie sie einen Ball in den Basketballkorb werfen, beginnend mit dem Ausruf: „Benny Uncle, look, look!“, und endend mit einem „Awesome job!“ oder „Ah, almost! Next time youʼll make it!“

… dass mich jemals acht Kids unabhängig voneinander darum bitten würden, dass ich ihnen den Text von „Do you want to build a snowman?“ diktiere, damit sie ihn auswendig lernen können.

… dass ich regelmäßig morgens von ein paar Mädchen mit den Worten begrüßt werden würde: „Uncle, can you sing ‚Do you want to build a snowman‘ for us?“

… dass mir einmal schlagartig bewusst werden würde, dass es auf dieser Welt Kinder gibt, die noch nie in ihrem Leben Schnee gesehen haben. Und noch nie einen Schneemann gebaut haben.

… dass es jeden Tag erhellt, gemeinsam „Do you want to build a snowman?“ zu singen.

… dass es kein Leid gibt, das ein paar Double Stuffed Oreos nicht beschwichtigen können.

… dass ich zwei streitende Jungs nur auseinanderbringen würde, indem ich ihnen androhe, ihre Köpfe nacheinander ins Klo zu tunken, woraufhin sie lachen müssen.

… dass kaum etwas beglückender ist, als wenn ein vierzehnjähriger Junge nachmittags sagt, „Uncle, Iʼm so tired …“, seinen Kopf auf meinen Schoß bettet und es genießt, sich den Kopf kraulen zu lassen.

… dass kaum etwas entzückender ist, als wenn ein fünfzehnjähriger Junge nach dem Sport sagt: „Uncle, please donʼt hug me – I am too dirty and you are too handsome!“

… dass eigentlich nichts, was mir je wichtig war, noch von großer Bedeutung ist, wenn man sich Sorgen machen muss, ob 79 Kinder abends noch ein Dach über dem Kopf und morgen genug zu essen und zu trinken haben.
… dass mir ein ganzes Volk nach der schlimmsten Katastrophe in fast hundert Jahren beispielhaft vorlebt, dass es in Ordnung ist, traurig zu sein, aber viel wichtiger, nach vorn zu schauen und weiterzuleben.

… dass ein Volk nach der schlimmsten Katastrophe in fast hundert Jahren recht schnell anfängt, Humor einzusetzen, Witze über Erdbeben reißt und versucht, sein Leid aus einem positiven Blickwinkel zu sehen.
… dass mir jemals ein fünfzehnjähriger Waise mit Tränen in den Augen sagen würde: „When I see you, I think of my mother. Because you have the good heart of a mother.“

… dass ich 34 Jahre brauchen würde, um herauszufinden, dass mein Leben einen Zweck hat.

Ich bin seit sechs Wochen hier. Ich habe noch viel, viel Zeit vor mir. Und trotzdem sehe ich jetzt schon mit Grauen auf den Tag, an dem das Leben, das erfüllender ist als jeglicher westlicher Luxus, vorbei sein soll …

Ashok und Rapten präsentieren stolz ihre magische Kartentricks.

Fadenspiele, –zaubereien und Kartenverarsche. :) Wannʼs Lukas wohl checkt? :D

Ein Blick durch die Runde – ein typischer Nachmittag in Dhapasi. Hinten auf dem Sportplatz (nicht zu sehen) toben sich noch einige Jungs beim Fußball aus.

Rapten zaubert in Sekundenschnelle die Faden-„Krone“ hervor.

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Kommentare: 7
  • #1

    Gabi (Sonntag, 10 Mai 2015 14:19)

    Wetten, dass die Liste in ein paar Wochen noch länger sein wird? Mit so einer schönen Aufzählung kannst du glatt deine Wohnung tapezieren :)

  • #2

    Mama und Papa (Sonntag, 10 Mai 2015 23:28)

    Wenn man das so liest, merkt man tatsächlich wie unwichtig viele Dinge sind. Aber könnten wir auf Dauer darauf verzichten? Danke, dass du es auf dich genommen hast, in eine andere Kultur einzutauchen und Kindern, die schon in ihren jungen Jahren viel durchgemacht haben, Liebe, Aufmerksamkeit, Lob und Anerkennung gibst. Das werden sie nicht vergessen.

  • #3

    Schwester von De Nise (Montag, 11 Mai 2015 15:06)

    ...ich muss lachen und weinen! :) So wunderbar, was du für die Menschen bedeutest :)

  • #4

    Dirk (Montag, 11 Mai 2015 18:33)

    Es ist erstaunlich, was man in seinem Leben noch lernen kann.
    Ich bin so stolz auf Dich, dass Du diese Entscheidung getroffen hast.

  • #5

    Talita (Montag, 11 Mai 2015 19:11)

    Danke, dass du das teilst! Voller Liebe geschrieben und zum Nachdenken bewegt!

  • #6

    Nici (Dienstag, 19 Mai 2015 13:04)

    Hallo Benny,
    ich bin beeindruckt von dir, deinem Schreiben, deinem Tun und deiner Liebe zu den Kindern. Ich hatte Traenen in den Augen, musste aber auch lachen. Es ist doch erstaunlich was wir brauchen, damit wir gluecklich sein koennen. Fuehl dich gedrueckt, deine Nici

  • #7

    Mirjam (Samstag, 26 Dezember 2015 18:01)

    Gerade gestern auf der Familien Weihnachtsfeier habe ich erstaunt festgestellt, dass viele Menschen sich nicht bewusst darüber sind, was eine Horizonterweiterung in ihnen bewirkt. Andere Länder und mehr Realität zu erleben, ist ein Vorrecht und ich dachte immer die meisten Leute könnten dann so wie du beschreiben in wie weit es sie verändert hat. Nachdem ich erstaunt begonnen habe daran zu zweifeln, ist mir durch deine Aufzählung was das mit dir gemacht hat und wie es dein Denken und Fühlen verändert hat usw. wieder beruhigt klar geworden, dass es doch geht! Man kann durch das was man erlebt auch verändert werden und das auch bewusst wahrnehmen. Danke.