Endlich vereint

„The sweetness of reunion is the joy of heaven.“ – Richard Paul Evans


Der Wecker klingelt um Viertel nach vier. Ich unterdrücke ein Ächzen, denn ringsum mich pennen schließlich noch an die zwanzig Jungs, die mit mir heute Nacht im Essensraum übernachtet haben. Hintern und Hüfte schmerzen vom harten Boden, aber ich habe nicht gefroren und sogar relativ gut geschlafen. Es werden nur Zähne geputzt und Klamotten übergestülpt, ehe ich mit Louisa zum Tor gehe. Navaraj hat zu halb fünf ein Taxi bestellt – was bedeutet, dass eventuell in der kommenden halben Stunde eines auftauchen wird, vielleicht aber auch nicht. Wir warten zwanzig Minuten, ehe wir runter zur Straße laufen, an der ring road einen Taxifahrer anhalten und uns zum Flughafen fahren lassen.

 

Wir haben gestern mit Durga gesprochen – er leitet mit Gocool das Trekkingbüro. Von ihm kam vor einigen Tagen auch die Nachricht, Nadine und alle von der Truppe seien in Sicherheit, nur um tags drauf hinzuzufügen, drei würden vermisst werden. Leider ist das eine nepalesische Unart: Über solche schwierigen Themen wird nicht gesprochen. Man würde ja jemanden verletzen. Also werden solche Nachrichten verschwiegen und können nur schwerlich herausgekitzelt werden. Immerhin haben wir erfahren, dass Nadine, ihre beiden Brüder, die Freundin des einen Bruders sowie der verbliebene Porter sich im 70 Km entfernten Dhunche befinden und mit den ersten Helikoptern zwischen halb sechs und sechs nach Kathmandu eingeflogen werden.

 

Wir lassen uns am domestic-Bereich des Flughafens absetzen. Zum ersten Mal erlebe ich nun die nepalesische Unorganisiertheit am eigenen Leibe. Niemand kann uns sagen, wohin wir eigentlich müssen. Jeder, den wir fragen, zuckt mit den Schultern, schickt uns an einen Ort, wo wir schon waren, oder in Bereiche, die es gar nicht gibt. Etwas verzweifelt verlassen wir das Gebäude, das übrigens einer fast verfallenen riesigen Fabrikhalle ähnelt. Es fängt an zu regnen, und zwar in Strömen. Wir laufen im Außenbereich die Mauer entlang, bis wir zu einem großen Tor kommen, hinter dem eine Frau in Militäruniform steht. Auch sie fragen wir. Sie bringt uns hinter das Tor in einen vom Regen geschützten Bereich und holt einen Kollegen dazu, der zuerst Louisa mitnimmt (weil nur einer mitdarf), mich dann jedoch auch kurze Zeit später abholt. Nun sitzen wir direkt am Flugfeld in einem kleinen Militärkabuff. Uns wird versichert, dass jedes Luftfahrzeug, ob nun privat, Militär oder Fluggesellschaft, hier gemeldet werden muss. Das heißt, wenn ein Rettungshelikopter aus Dhunche eintrifft, können sie uns sofort informieren. Nur ist bei dem derzeitigen Wetter nicht zu erwarten, dass die Helikopter überhaupt fliegen. Louisa und ich nehmen in einem kleinen Raum Platz, und ich muss fast lachen, weil mir die ganze Situation vorkommt wie aus einem klischeehaften Film: In einem Büro sitzen die wichtigen Leute, im briefing-&-debriefing-Raum nebenan hängt eine riesige Landkarte von Nepal, vor der sich ein paar Soldaten tümmeln. Unser Warteraum ist voller alter, verstaubter Aktenordner. Ab und zu kommt jemand zu uns und befragt die beiden Weißen. Immer wieder werden die gleichen Fragen gestellt. Kaum einer versteht, was wir eigentlich wollen, bis auf eine kleine, stämmige Frau in Uniform (nicht die vom Tor) mit strenger Miene und knallroten Lippen, die uns jedoch freundlich versichert, unsere Freunde würden heute auf jeden Fall eintreffen. Irgendwann halt. Und als ob das alles nicht schon klischeehaft genug wäre, befindet sich mitten im Geschehen noch eine amerikanische Journalistin der Washington Post. Wir sitzen windgeschützt, aber mir ist trotzdem kalt. Draußen gießt es und will gar nicht mehr aufhören. Ich halte Kontakt mit den anderen, aber mein Akku näher sich jetzt schon dem Ende. Irgendwann ruft endlich Durga an, er sei jetzt gleich beim Flughafen. Es ist kurz vor sieben.  Leider wieder typisch: Uns sagt er, der Helikopter käme zwischen halb sechs und sechs, er selbst taucht um sieben auf. Wir warten also weiter, bis wir schließlich eine geschlagene Stunde später den Militärbereich verlassen und Durga auf dem Parkplatz suchen, wo wir ihn auch finden. Bei ihm ist Raj Kumar – er ist der jüngere Bruder von Gocool, der ja zu den Vermissten gehört, und der ältere Bruder von Dibisha, der ich in den vergangenen paar Wochen ab und an Nachhilfe in Englisch gegeben hab. Raj Kumar ist anzusehen, dass er sich um seinen Bruder kaum Hoffnungen macht, was auch Louisa, die die Familie sehr gut kennt, zutiefst mitnimmt. Wir erfahren von ihm auch, dass Dibisha ihren ältesten Bruder in Sicherheit wägt, weil Raj Kumar es bislang nicht fertig gebracht hat, ihr die Wahrheit zu sagen. Ich rege mich innerlich ein wenig darüber auf, denn ewig wird er es ihr wohl nicht verheimlichen können, aber das ist eben auch keine Entscheidung, die ihm jemand von uns abnehmen darf. Durga erklärt, dass keine Helikopter fliegen werden, wenn sich das Wetter bis mittags nicht bessert. In diesem Fall müssten Nadine und Co. von Dhunche nach Kathmandu laufen – immerhin ein Fußmarsch von rund fünf, sechs Stunden. Ich überzeuge Louisa, dass wir zurück nach Dhapasi fahren und ein wenig zur Ruhe kommen. Sie ist aufgelöst und möchte am liebsten bei Raj Kumar bleiben, aber er und Durga haben alle Hände voll zu tun, und ich habe den Eindruck, dass die beiden sich gegenseitig in ihrer Ungewissheit und Angst in ihre Emotionen zu sehr hineinsteigern.

 

In Dhapasi tobt bereits das Leben, und wir lenken uns ab, indem wir Zeit mit den Kindern verbringen. Nabin informiert uns, dass sich Umesh auf dem Weg zur Besserung befindet und bereits feste Nahrung zu sich nimmt und aufstehen und herumgehen konnte. Er wird zur Beobachtung jedoch noch länger im Krankenhaus bleiben. Das geht ordentlich ins Geld, denn die Aufenthaltskosten sind (sogar für deutsche Verhältnisse) horrend. Aber mir ist ohnehin wichtiger, dass er wieder auf die Beine kommt und sich vollständig erholt. Mittags ruft Durga an – der Regen hat sich inzwischen gelegt, aber es fliegt trotzdem nichts. Er würde jetzt mit dem Auto nach Dhunche fahren und sie abholen. Für uns Deutsche klingen 70 Kilometer auch nach keiner argen Strecke, aber man darf das gar nicht vergleichen. Die Straßenverhältnisse sind so schlimm, dass man davon ausgehen kann, dass Durga nicht schneller als 15 oder 20 km/h fahren wird. Ich sage ihm deutlich, dass er sich sofort melden soll, wenn er bei Nadine ist, was er mir zusichert, auch wenn ich bei allem, was geschehen ist, meine Zweifel hab, ob er das auch wirklich hinbekommt.

 

Nachmittags taucht ein Überraschungsgast auf, Cécile Pelous, eine Französin, die eine ähnliche Einrichtung wie Ellen leitet. Sie war tatsächlich Gast im Horizon, als das Unglück geschah, und ist zu recht dankbar, dass sie noch am Leben ist. Navaraj, unser Leiter, ist einer ihrer Schützlinge, und freut sich natürlich über ihren Besuch. Sie ist auch dankbar, dass bei uns das Internet funktioniert, da sie bislang all ihre Lieben noch nicht informieren konnte, dass es ihr gut geht, und immerhin sind ja schon fünf Tage vergangen.

 

Als mich nachmittags die Müdigkeit überwältigt und ich mich ein paar Minuten hinlege, stürmt Anna ins Zimmer: Es sind doch Helikopter geflogen. Nadine ist jetzt am Flughafen. Ich springe auf, und Louisa und ich laufen eilig runter an die Straße. Der Taxifahrer spürt unsere Eile und rast in einem Affentempo, dass ich Angst bekomme, ob wir nun überhaupt lebend am Flughafen ankommen. Zum ersten Mal seit dem Schock am vergangenen Samstag empfinde ich deutliche Furcht – und zwar vor der Situation auf uns zukommt. Wie wird es Nadine gehen, wir traumatisiert wird sie sein? Wie um alles in der Welt soll ich überhaupt Worte finden nach dem, was sie erlebt hat? Schließlich sagt Louisa wie aus dem Nichts: „Ist es okay, wenn wir ein Gebet sprechen?“ Ich nehme ihre Hand, wir schließen die Augen, und Louisa sagt ein paar aufrichtige Worte, die mir tief ins Herz gehen und gleich ein Gefühl geben, dass alles irgendwie gut sein wird.

 

Wir drücken dem Taxifahrer den 500-Rupien-Schein in die Hand und stürmen aus dem Auto. Schon nach wenigen Sekunden sehen wir Nadine mit einem strahlenden Lächeln auf dem Gesicht und ausgestreckte Armen auf uns zulaufen. Wir umarmen einander und sagen eine Weile erst einmal gar nichts, überwältigt von der Freude des Wiedersehens. Nadine ist erstaunlich gefasst, sie bringt wieder und wieder zum Ausdruck, wie glücklich sie ist, uns zu sehen, und dass es ihr gut geht. Bei ihr sind ihre beiden Brüder Andi und Simon, Simons Freundin Verena, der Porter Sancha und David, Gocools bester Freund. Allen geht es – den Umständen entsprechend – gut, auch wenn es mir das Herz bricht, den Schmerz in Andis Gesicht zu sehen, die Ungewissheit, wie es um seine Freundin steht, der Funke Hoffnung, der überschattet wird von den Fakten.

 

Nadine berichtet uns, was geschehen ist: Kathleen, Andis Freundin, ging es von Anfang an auf der Tour gesundheitlich nicht besonders gut. Am besagten Tag entschied sie sich, die Tagestour ins Gebirge nicht mitzumachen, sondern im Hotel zu bleiben. Unterwegs ging es plötzlich auch Gocool schlecht und er beschloss, zurückzugehen. Ein Träger ging mit ihm. Das, was Nadine vom Erdbeben berichtet, gleicht einem Horrorszenario aus einem Katastrophenfilm. Geröll, Felsen, plötzlich einsetzende totale Finsternis, ein Schneesturm mit beißender Kälte – ich glaube, niemand, der das nicht miterlebt hat, könnte sich jemals in diesen Schrecken hineinversetzen. Die Gruppe lief so schnell es geht den Berg wieder hinunter, wie durch ein Wunder wurde niemand von ihnen verletzt. Doch dort, wo am Morgen noch eine Stadt gewesen war und auch ihr Hotel, befand sich nun ein 30 Meter hoher Gletscher, der sich beim Beben vom Berg gelöst hatte.

 

Natürlich kann niemand mit Bestimmtheit sagen, wo sich Kathleen, Gocool und der Porter zum Zeitpunkt des Unglücks wirklich aufgehalten haben. Ich weiß ehrlich gesagt auch gar nicht, was schlimmer wäre – eindeutig zu wissen, dass sie tot sind, oder die bange Ungewissheit, ob sie vielleicht noch am Leben sind. Tatsächlich bin ich aber froh, dass weder Nadine noch die anderen Augenzeugen waren, wie einer der drei von einer Lawine überrollt wurde o. Ä. Auch wenn sie alle gefasst sind, wird die Realität sicher früher oder später über sie hereinbrechen. Andi möchte auf jeden Fall bewerkstelligen, dass nach seiner Freundin gesucht wird, und ich finde es auch gut und bewundernswert, dass er nicht aufgibt. Nach einem kurzen Gesundheitscheck im Krankenhaus werden sie in einem kleinen Hotel untergebracht.

 

Louisa und ich kommen relativ spät zurück nach Dhapasi. Die didis haben extra für uns das Dal Bhat draußen stehen lassen, und ich merke jetzt erst, wie hungrig ich bin, und ignoriere das Dutzend Kakerlaken, das über die Töpfe krabbelt. Zusätzliches Eiweiß, sage ich mir. Es toben so viele Emotionen in mir – ich bin überglücklich, dass es Nadine gut geht. Ich kenne Gocool nicht sonderlich gut, aber immerhin habe ich mit ihm zusammengesessen, um die eigene Tour zum Everest Base Camp zu planen, auch Kathleen habe ich nur einmal gesehen, aber der Gedanke, sie könnten so plötzlich in den Tod gerissen worden sein, erschreckt mich und ist gar nicht greifbar. Sicherlich stellt sich dieses Gefühl noch ein.

 

Ich wünschte, ich könnte irgendwie die Hoffnung vermitteln, dass eines Tages alles einen Sinn ergeben wird – weshalb so viele bereits mittellose Menschen das Wenige verloren haben, was sie noch hatten; weshalb das Kulturgut vieler Städte und für das Volk wichtige religiöse Stätten vollends zerstört wurden; weshalb Tausende tot sind oder noch vermisst werden; weshalb junge Leute, die einen Urlaub in der herrlichen Natur Gottes erleben wollten, nie wieder in ihre Heimat zurückkehren werden. Ich habe diese Hoffnung durchaus und sie erhält mich aufrecht. Ich predige hier niemandem, ich rede mit niemandem über ein etwaiges Leben nach dem Tod, weil ich glaube, dass der Schrecken noch so groß ist, dass solche Gespräche wenig Trost spenden. Ich versuche eher, diese Hoffnung zu vermitteln, indem ich meine Freunde in den Arm nehme und ihnen das Gefühl gebe, sicher zu sein, indem ich versuche, ruhig zu bleiben. Ab und an, wenn ich ein paar Minuten für mich habe oder mit Freunden oder Familie telefoniere, überkommen mich dann selbst die Tränen, weil ich einfach nicht die ganze Zeit stark sein kann. Aber ich weiß, dass ich irgendwann verstehen werde, weshalb diese schrecklichen Dinge notwendig waren, genauso wie ich weiß, dass hier gerade mein Platz ist, auch wenn ich den Grund noch nicht ganz erfasst habe.

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Kommentare: 3
  • #1

    David Jähnert (Freitag, 01 Mai 2015 13:52)

    Danke Benny für Deine Blog-Einträge.
    Ich kann Dir versichern, dass hier eine Menge Leute mitlesen :)
    Alles, alles Gute ... für Euch alle.
    Dave

  • #2

    Mama und Papa (Freitag, 01 Mai 2015 15:10)

    Wir alle haben keine Antworten auf diese Fragen. Der Himmel schweigt zwar, aber das Gefühl des Friedens wird uns immer wieder vermittelt. Es ist wunderbar, dass du den Kindern ein Trost bist, dass du ihnen Hoffnung vermittelst, sie in den Arm nimmst und sie wissen läßt, dass sie in dieser schlimmen Zeit nicht alleine sind. Wenn du unter diesen Umständen deinen Glauben bewahren kannst, werden auch irgendwann die Antworten kommen, auf die du so dringend wartest. Wir haben dich lieb, mach weiter!

  • #3

    Manu (Sonntag, 03 Mai 2015 16:51)

    Liest sich mit Tränen in den Augen. Zum Glück gehts euch alle. soweit gut...#PrayersForNepal