Der Ernst des Lebens beginnt II

Ein paar der Großen sind jetzt in der 10. Klasse. Das bedeutet, ihr Tagesablauf ändert sich nun etwas: Statt des regulären Lernens von 6 bis 8 Uhr stehen sie um halb vier Uhr morgens auf. (Nein, ihr habt euch nicht verlesen. 3:30 Uhr. Morgens.) Sie lernen von 4 Uhr bis halb sechs, dann gibt es ein kleines Frühstück, ehe es zum Bus geht. Aber sie müssen nicht nur zwei Stunden früher an der Schule sein, sie haben auch noch länger Unterricht – während die anderen zwischen vier und fünf in Dhapasi eintrudeln, kommen die Zehntklässler frühestens um 18 Uhr zurück. Dann sitzen sie anderthalb Stunden an den Hausaufgaben, ehe es Abendessen gibt und danach direkt ins Bett geht. Sechs Mal die Woche. Ohne auch nur einmal zu meckern. Aber: Wie gewohnt die Nepalesen den recht strikten Tagesablauf auch gewöhnt sein mögen, den Kids ist anzumerken, wie sehr sie gefordert werden. Können die Sechst- bis Neuntklässler nach den Hausaufgaben noch wenigstens eine halbe Stunde oder so im Hof Dampf ablassen, wirken die ganz Großen nur noch müde und kaputt. Ich bin selbst gespannt, ob sie auch samstags schon so früh aufstehen müssen, oder ob ihnen da zwei Stunden länger im Bett gewährt werden …

Das Ganze läuft übrigens eigenständiger als man bei Pubertierenden erwarten würde: Als Hausleiter Navaraj samt Schwester und Mutter für drei Tage in sein Heimatdorf reist, übernimmt zwar eine der didis die Leitung, aber alles läuft hier selbständig ab – so müssen die Großen nicht geweckt werden, sondern stehen von allein auf. Wie gesagt: halb vier. Jeden Tag. Ich sag nur: FSY – eine Woche in den Sommerferien mal um kurz vor 7 Uhr aufstehen müssen …

Die Hausaufgabenbetreuung fällt mir teilweise schwer, weil mir das nepalesische Schulsystem so arges Kopfzerbrechen bereitet. Selbst bei Aufgaben, in denen „Write your opinion“ steht, soll die Antwort direkt aus dem Text abgeschrieben werden – und überhaupt ist das hier Standard. Antwort abschreiben und dann auswendig lernen. So wirdʼs ja auch in der Klassenarbeit später abgefragt. (Bei mir hätte es nur Sechser gehagelt, wenn ich Antworten immerzu abgeschrieben hätte.) In Mathematik ist gerade Wurzelberechnung dran. Pia, Lukas und ich brauchen erst einmal eine geschlagene Dreiviertelstunde, bis wir den komplizierten Rechenweg überhaupt nachvollziehen können. Dann erst geht es an die eigentliche Hausaufgabe: Die Wurzel aus 18679 ausrechnen. Shioba, Navaraj und Manisha schauen nur verwirrt drein, weil sie zu keinem vernünftigen Ergebnis kommen. Nach einer weiteren halben Stunde der Frustration hole ich mein Handy, damit wir zumindest schon mal das Ergebnis nachschauen können, auf das wir hinarbeiten sollen. Da folgt dann auch die Ernüchterung: Die Wurzel aus 18679 ist eine Dezimalzahl – wahrscheinlich wollte der Lehrer eigentlich die Wurzel aus 18769, die da 137 wäre. Also ein Zahlendreher. Ich tapse die Treppe runter zum großen Navaraj und erkläre ihm die Situation. „Itʼs obviously the teacherʼs mistake“, sage ich. Denn immerhin haben alle aus der Klasse die gleiche falsche Zahl im Heft stehen. Navaraj zuckt nur mit den Schultern. „Then they need to explain it to him“,  meint er. Ich gehe wieder hoch und schreibe eine Notiz für den Lehrer, die ich Shioba in die Hand drücke. „If he gets mad, you tell me!“, fordere ich sie auf und unterdrücke ein „and I will come and punch him“. Glücklicherweise zeigt der Lehrer Einsicht und es gibt keine Probleme. Trotzdem kostet sowas viel Zeit, die die Kids eigentlich gar nicht haben, denn sie müssen jeden Nachmittag echte Berge an Hausaufgaben bewältigen. Selbst bei Fragen zu einem Text muss jeder einzelne Frage erst einmal komplett abgeschrieben werden, ehe sie dann mit der entsprechenden Antwort aus dem Buch versehen wird. Als Nächstes wird aus dem Literaturbuch ein Gedicht abgeschrieben. Nein, es werden keine Fragen dazu beantwortet. Es muss nicht einmal auswendig gelernt werden. Es wird auch ohnehin nicht weiter bearbeitet. Aber Hauptsache, die Kids müssen es komplett abschreiben, alle beiden A4-Seiten. „Handwriting exercise“, erklärt Shioba. Ah ja.

Ashok und J.P. (eigentlich Jay Prakash). Zwei echte Sonnenstrahlen. Manchmal nenn ich die beiden auch „Iceman“ und „Sizzler“, weil Ashok immer eiskalte Hände hat und J.P. immer total warme.
Ashok und J.P. (eigentlich Jay Prakash). Zwei echte Sonnenstrahlen. Manchmal nenn ich die beiden auch „Iceman“ und „Sizzler“, weil Ashok immer eiskalte Hände hat und J.P. immer total warme.

Was mich noch nachdenklicher stimmt: Etliche Kids würden ja viel eigenständiger denken wollen, wenn sie denn dürften. Als ich mit Ashok, J.P. und Himal zusammensitze, überhäuft mich Ashok mit Fragen über Deutschland und den Zweiten Weltkrieg. Ashok ist ungefähr 14, geht in die achte Klasse, ist Klassenbester. Vom reinen Körperbau würde man ihn nach deutschem Standard auf eher 8 bis 10 schätzen. Sein Stimmbruch hat auch noch nicht eingesetzt, und ich liebe es, ihn zum Lachen zu bringen, weil er klingt wie ein Chipmunk. :) Sein Name wird „O-ssok“ ausgesprochen (Betonung auf der ersten Silbe, aber eher so wie das englische „aw“), und als er mir seinen Namen vor einem Monat das erste Mal genannt hat, habe ich große Augen gemacht, weil ich „Azog“ verstanden habe, also der Name meines großen weißen Ork-Babes aus der Hobbit-Trilogie. Inzwischen sage ich „President Ashok“ zu ihm: „You will become president of this country“, schlage ich ihm vor (na ja, eigentlich befehle ich es ihm eher). „Nepal needs people like you. You understand?“ Er grinst nur. Aber nickt. Ich hingegen hoffe, dass es ihm irgendwann irgendwie tatsächlich gelingt, sein Potenzial ganz auszuschöpfen, denn in dem Kleinen steckt eine ganze Menge Wissensdurst und Intelligenz. Je mehr ihm und seinen Altersgenossen bewusst wird, dass sie in ihrem Land etwas bewirken und ändern können, desto höher die Wahrscheinlichkeit, dass sich in den künftigen Jahren tatsächlich auch etwas tut. Und wer weiß, vielleicht erinnert sich President Ashok irgendwann an mich und schlägt mich dann zum Ritter. :)

Random Touri-Stuff

Wir fahren ins benachbarte Boudha (Bodnath) und besichtigen dort den Stupa, immerhin einer der größten seiner Art. Nach dem gemeinsamen Mittagessen gibtʼs einen Brownie auf die Faust (ich fresse zu viel und muss aufpassen – immerhin klapptʼs mit dem täglichen Sport) und das Bauwerk wird umrundet und bestiegen. Heiter wird auch die Busfahrt zurück, die mich nicht so nah an Thamel ranbringt, wie der Busfahrer versprach, aber dank GoogleMaps finde ich dann doch relativ zügig durch die engen, gleich aussehenden Gassen des nepalesischen Einkaufviertels den Fußweg zu Gocools Büro, um einen bevorstehenden Trek zu planen: Anfang Juni soll es nämlich tatsächlich auf den Mount Everest gehen, yi-ha! :)

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