Der Ernst des Lebens beginnt

Die Ferien sind vorbei: Mit dem nepalesischen Neujahr beginnt auch das neue Schuljahr. Nur zwei Kids aus Dhapasi sind in jeweils einem Schulfach durchgefallen (was allerdings normalerweise heißt, dass man nicht in die nächste Stufe darf), der Rest hat sich wacker geschlagen. Das ganze Schulsystem funktioniert leider überhaupt nicht gut, einmal abgesehen davon gibt es leider auch genügend Kinder in Nepal, die gar nicht zur Schule gehen oder gehen können. Schule kostet schließlich. Ramesh beispielsweise ist er mit ungefähr zehn Jahren eingeschult worden. Er hat allen Stoff inzwischen aber so gut aufgeholt, dass er, nachdem er nun die 6. Klasse bravourös abgeschlossen hat, die 7. komplett überspringt und in die 8. kommt. Dadurch, dass die wenigsten Nepalesen überhaupt ihr Alter kennen, kann man das mit dem geordneten deutschen Schulbeginn also gar nicht erst vergleichen. Die Schulklassen hier sind außerdem sehr viel größer (fast 40) und, damit die (De-)Motivation noch größer wird, steht im Zeugnis auch haargenau, welchen „rank“ man in der Klasse von den Noten her erzielt hat. Was nicht anderes heißt als: Nicht nur die Klassenbesten wissen, wie gut sie sind, sondern es steht auch schwarz auf weiß, wenn man der Klassenschlechteste ist. Und wird auch gleich damit belohnt, dass man im Klassenzimmer hinten sitzen darf. Denn vorne sitzen schließlich die guten.

Ich habe das Ferienende immer gehasst, besonders das der sechswöchigen Sommerferien, hier geht das alles weitaus nüchterner zu und wird mit einem Achselzucken zur Kenntnis genommen. Ein paar Tage vor Schulbeginn werden die neuen Schulbücher geliefert und feinsäuberlich in Plastikhüllen geklebt, es gibt neue Rücksäcke, neue Schuhe. Der erste Schultag beginnt wie jeder andere Tag auch: Von 6 bis 8 Uhr morgens wird gelernt, dann gibt es Frühstück. Dann jedoch wird nicht mehr draußen gespielt oder Zeitung gelesen, sondern alle machen sich schnell bereit und stellen sich auf.

Geschniegelt und gestriegelt – in Schuluniform, mit Öl im Haar (das Haar muss schließlich glänzen, egal wie fettig es ist – das ist das nepalesische Schönheitsideal), Lotion im Gesicht und Lipgloss für die Mädchen wird auf den Abmarsch zum Schulbus gewartet … Übrigens ist gleich am nächsten Tag Feiertag. Kurzfristig einberufen, weil ein Politiker verstorben ist. Tags drauf, am Samstag, ist ohnehin keine Schule. Aber wie ich erfahre, ist das hier Normalität: Eigentlich gibtʼs ja sechs Werktage und nur samstags ist frei, aber es gibt so viele Streiks und Feiertage, dass die Kids meist trotzdem pro Woche auf zwei schulfreie Tage kommen.

Manisha und Shioba beim morgendlichen Lernen
Manisha und Shioba beim morgendlichen Lernen

Das allmorgendliche Lernen wandelt sich nun etwas. In den Ferien waren die Lerninhalte eher etwas „random“ – bei Shioba beispielsweise ging es ja darum, dass sie ihr Englisch verbessert. Ich kann nicht sagen, dass ich da große Erfolge gefeiert habe. Auch bedingt durch die komische nepalesische Aussprache des Englischen war es schon äußerst mühsam, die absoluten basics durchzugehen, also die reine Aussprache von Konsonanten und Vokalen. Anfangs habe ich mit Shioba allein gelernt, dann haben sich schnell Manisha (nicht dieselbe wie die Manisha oben rechts im Bild) und auch Navaraj* dazugesellt. Manisha ist ein ziemlicher Sonderfall. Wer sie kennenlernt, stellt schnell fest, dass sie jemand mit „special needs“ ist, wie wir in der Kirche immer so schön sagen. Manisha war noch ziemlich jung, als sie herkam, aber wir wissen ja, wie das Leben eines jungen Menschen gerade in den ersten Lebensjahren bereits komplett versaut werden kann. Bei Manisha waren es schwere Misshandlung und Alkoholmissbrauch durch den Vater. Es war so schlimm, dass sie, als sie im Haus der Hoffnung aufgenommen wurde, lange Zeit panische Angst vor allen Männern und Jungs hatte. Sie hat sich zu einem fröhlichen jungen Mädchen entwickelt, aber man merkt, dass sie geistig zurückgeblieben ist. Ich kann nicht ermessen, ob sie auch eine angeborene Lernschwäche hat, oder ob ihre Behinderung eine Konsequenz der traumatischen Kindheit ist. Als sie herkam, konnte sie kein Wort Englisch, und es dauerte auch sehr lange, bis sie überhaupt erst einmal das Alphabet konnte. Es ist für die Heimleitung ein regelrechtes Wunder, als sie die ersten vier Schuljahre schaffte, dann noch eines. In der 6. Klasse ist sie in Nepali durchgefallen, aber sie besucht nun trotz allem die 7. Klasse. Ich empfinde die schulische Situation für sie als schwierig – und ich weiß nicht, ob sie die 7. Klasse packen wird. Beim Lernen merkt man die großen Defizite und wie sie nicht imstande ist, einfache Inhalte zu erfassen. Beim Diktat beispielsweise schreibt sie, wenn sie ein Wort nicht kennt, nichts hin, was irgendwie ähnlich klingt, sondern einfach ein Wort, das mit dem gleichen Buchstaben anfängt. Es kann also sein, dass ich „moment“ diktiert habe und sie „man“ aufschreibt. In einer schulischen Einrichtung mit Kindern, die eine ähnliche Schwäche aufweisen, würde sie bestimmt mehr Erfolge aufweisen können, aber hier in Nepal …? Was ihr bislang sicherlich zugute gekommen ist, ist das nepalesische Lernsystem – eigenständiges Denken wird in der Schule nämlich nicht gefordert. Den Kindern wird vorgegeben, was sie auswendig kennen müssen, und die Hausaufgaben bestehen vor allem auch darin: im Auswendiglernen. Man merkt das besonders am Kopfrechnen – die Kids beherrschen das Einmaleins zwar, aber sie haben es lediglich auswendig gelernt. Bei den Kleinen ist das ganz besonders schlimm: Wenn man sie fragt: „3x5“, kommt die Antwort sofort, wenn manʼs lediglich umdreht und nach „5x3“ fragt, sind sie nicht imstande, das Ergebnis zu nennen, denn so stand es schließlich nicht im Buch. Für jemanden wie Manisha ist somit die Schule natürlich etwas leichter, wenn lediglich von ihr verlangt wird, etwas zu können, was sie immer und immer wieder aufsagen kann, bis sie es beherrscht. Viele sind jedoch eigentlich unterfordert und wissen es nicht einmal. Nichtsdestotrotz kann ich jetzt wieder die ersten 20 Elemente des Periodensystems auswendig, inklusive Abkürzung. Wunderbar. :)

Was man bei Manisha auch deutlich hervorheben sollte: In Deutschland wäre jemand wie sie aller Wahrscheinlichkeit nach Außenseiter und Mobbingopfer. Hier ist sie vollständig integriert. Bei den Freizeitaktivitäten zieht sie zwar schon auch mitunter ihr eigenes Ding durch, beispielsweise knüpft sie immer sehr eifrig Freundschaftsbänder statt beim Kartenspielen mitzumachen, aber niemand macht sich jemals über sie lustig. Alle helfen ihr, sind für sie da, haben Verständnis für sie, behandeln sie gleichwertig. Was wieder dafür spricht, welch tolles Miteinander hier herrscht.

Der Dritte in der Lernrunde ist wie gesagt Navaraj, auch keineswegs dumm, sondern einfach total hyperaktiv, sogar noch eine Ladung mehr Hummeln im Hintern als bei den Zwillingen. Dass er in Mathe durchgerasselt ist, liegt leider an seinen Konzentrationsschwierigkeiten. Pia lernt meist mit ihm separat, damit er mehr vom Lernstoff aufnehmen kann. Aber zwischendurch muss natürlich auch mal gekuschelt werden.

*Nicht zu verwechseln mit dem „großen“ Navaraj, dem Leiter von Dhapasi. Gibt also zwei Navarajs hier, zwei Sujans und zwei Manishas. Es gibt auch zwei Mädchen, die [Pu-sa] ausgesprochen werden, allerdings werden die Vornamen unterschiedlich buchstabiert: Puja und Pooja. Und wo wir schon dabei sind: Die Aussprache der Namen weicht schon von dem Schriftbild ab – vielleicht sollte ich anfangen, mal die Lautschrift hinzuzufügen. :) Also „Navaraj“ wird beispielsweise „Nawrasch“ ausgesprochen, was ohnehin ein außergewöhnlicher Sound ist, denn die Nepalesen sprechen in der Regel keine „sch“-Laute, auch nicht in englischen Wörtern („social“ = „soßel“, „ship“ = „ßipp“). „Manisha“ wird also „Maniessa“ ausgesprochen, „Ramesh“ = „Ramess“, „Shioba“ = „Sowwa“. Komisch sind besonders auch die j-Laute, die völlig unberechenbar anders klingen, nur nicht wie j: „Sanjeev“ = „Sandschieb“, „Sujan“ = „Susann“, „Samjhana“ = „Sommsanna“. Immerhin kann man bei „Himal“ und „Kamal“ nichts falsch machen. :)

Zum heutigen Abschluss: Ich könnte stundenlang den Himmel beobachten. Die Sonnenaufgänge sind wunderschön, die Sonnenuntergänge auch. Am Sonntag wollen wir um drei Uhr früh raus und irgendwo außerhalb der Stadt einen Sonnenaufgang beobachten. Muss natürlich nur darauf achten, dass ich dem Beispiel meiner Schwestern nicht nacheifere und die ganze Zeit mit dem Rücken zur aufgehenden Sonne sitze. ;)

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Kommentare: 3
  • #1

    Mama und Papa (Freitag, 17 April 2015 22:28)

    Du beschreibst sehr gut die Probleme und Schwierigkeiten mit dem Schulsystem. Es ist für uns gar nicht nachvollziehbar, wie schlimm das alles ist. Was wird aus den Kids wenn sie mit der Schule fertig sind? Wie sind die Chancen für einen Ausbildungsplatz oder Arbeitsplatz?

  • #2

    Benny (Samstag, 18 April 2015 06:10)

    Die Chancen für die weitere Ausbildung sind glücklicherweise recht gut, allerdings kostspielig. Anders als in Deutschland wird man in einem Ausbildungsberuf zunächst nicht vergütet, sondern muss sogar noch draufzahlen, um die Theorie, die dann am College stattfindet, zu bezahlen. Wer Krankenschwester wird oder in einem Hotel arbeitet, bekommt auch keine Uniform zur Verfügung gestellt, sondern muss sich diese mit dem Unternehmungslogo vom eigenen Geld kaufen.

    Ich habe die Hoffnung, dass die jetzige Generation, die sich in Ausbildung befindet, später etwas in dem zerbrechlichen politischen System bewirken kann. Viele sind wirklich pfiffig und wissbegierig und sich auch der schwierigen Situation im Land bewusst. Insofern kann man wirklich nur hoffen, dass sie es sind, dank denen sich Nepal zu einem stabileren Land entwickelt.

  • #3

    Brusten (Samstag, 18 April 2015 21:24)

    Darf ich dich schon mal einladen, dass du nach den Sommerferien in Deutschland mal einen Vormittag in meine Klasse kommst und für meine Schüler einen Vortrag über deine Erlebnisse hältst?? Ist natürlich noch früh, aber würde mich sehr freuen ...