Ich bin seit zweieinhalb Wochen hier. Daheim rasiere ich mir den Schädel ungefähr alle drei Tage. Hier in Kathmandu trage ich das, was von meiner Haarpracht noch wächst, keineswegs auch nur einen
Millimeter länger – aber ich habe mir noch nicht ein einziges Mal selber den Kopf rasiert. Denn so, wie Sujol gern Haut abpult, sind die großen Jungs ganz heiß darauf, Frisör zu spielen. Ich
brauche nur den Elektrorasierer hochzuhalten: „So who wants to shave my head?“, und es steht außer Frage, was in den nächsten fünfzehn Minuten die absolute Attraktion draußen im Hof in der
Mittagssonne ist. Sachin ist der Erste. Er ist vorsichtig und präzise. Zwischendurch langt mir immer mal wieder einer der Jungen an meinen kahlen Hinterkopf (die Mädchen würden sich niemals
trauen, mich anzufassen). Anschließend hole ich Aftershave-Balsam und verteile ein paar Tropfen an vier Jungen. Gemeinsam massieren sie mir die angenehme Lotion in die Kopfhaut ein. Ich darf
mich nicht zu sehr daran gewöhnen – so ein Service! „How often you cut hair?“, fragt einer. „Every third day“, erwidere ich und füge gleich hinzu: „So in three days someone else can shave,
yes?“ Ein Dutzend Hände schießen in die Höhe. „Me next time!“, kündigt Umesh an. Also gut, werde ich mich wohl doch daran gewöhnen … Wieso sollte ich auch nicht davon profitieren,
dass die Jungs so viel Spaß daran haben? Ist halt etwas völlig Neues für sie. Zum Schluss dürfen alle noch mal streicheln.
Apropos: Die Kleinen waren ja von Anfang an sehr berührungsfreundlich. Sogar die Mädchen sind da noch nicht so zurückhaltend wie im Jugendalter, wenn Jungs und Mädels sehr strikt getrennte Wege gehen. Das gehört nun einmal zur nepalesischen Mentalität: In der Öffentlichkeit gibt es keine Berührungspunkte zwischen Mann und Frau. Man sieht auf der Straße nie ein Pärchen, das Händchen hält. Keine Umarmungen. Auf keinen Fall Küsse. (Außer in der Disco, da verlieren sie dann alle ihre Hemmungen, allerdings besaufen sich Nepalesen leider auch ziemlich schnell ziemlich heftig – aber das ist ein anderes Thema …) Zwischen zwei Frauen sieht man körperliche Affektion schon eher mal, aber tatsächlich – und für uns Nordeuropäer ziemlich ungewöhnlich – viel häufiger zwischen Männern. Das ist auch etwas, was ich bei den älteren Jungs von Anfang an beobachtet hab: Es gab da wenig Zurückhaltung zu überwinden, ehe wir uns auf die Schulter oder den Rücken klopften oder reges High Five gaben. Inzwischen sind sie aber noch viel zutraulicher geworden: kommen zwischendurch angelaufen und umarmen mich innig, greifen beim Kartenspiel zwischendurch einfach mal meine Hand, kraulen mir den Kopf oder die Schultern. Auch umgekehrt merke ich, dass sie es sehr genießen, diese Art von körperlicher Zuwendung zu bekommen. Beispielsweise hat Ellen die beiden Brüder Ramesh und Umesh, die ja nicht im Dhapasi-Haus übernachten, sondern daheim bei ihren Eltern, jeden Abend für den kurzen Fußweg begleitet. Ellen ist Dienstag abgereist, und ich biete den Jungs an, mal mitzukommen, worüber sie sich sichtlich freuen. Kaum verlassen wir das Grundstück, greifen sie von rechts und links wie selbstverständlich meine Hand. Das mag für uns Deutsche bei kleineren Kindern gewöhnlich sein, bei zwei Jungen, die ungefähr 16 und 14 sind, hingegen nicht. Dinesh und Himal verteilen inzwischen sogar gern Küsse auf die Wange, gewöhnlich begleitet von einem „I love you, brother!“
Mich rührt das alles natürlich sehr, aber ich habe auch ein wenig Angst. Die volunteers kommen und gehen ständig – das wissen die Kids auch. Eigentlich bauen sie keine tiefgreifenden emotionalen Beziehungen auf, denn wie schmerzhaft wäre das nur, alle paar Wochen tränenreiche Abschiede feiern zu müssen. Aber ich kenne mich selbst ja – ich lasse mich von solchen Gefühlen doch sehr schnell übermannen, und es fällt mir schwer, da die nötige professionelle Distanz zu wahren. Und das nach erst zwei Wochen. Ich erlaube mir noch gar nicht, auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden, wie der Abschied irgendwann in noch weit entfernter Zeit mal sein wird. Das ist vielleicht unklug von mir, aber momentan kann ich nicht anders. Schließlich lieb ich die halt alle schon so heiß und innig.
Vielleicht ist es auch die generell offenherzige Art der Nepalesen, die es mir schwer macht, die doch eher typisch deutsche Distanz zu wahren. Die Zahl meiner Desinfektionsgel-Gang auf dem Weg zwischen Dhapasi und Gangabu ist inzwischen auf rund 15 angewachsen. „BEN-TEN!“, ertönt es schon immer aus der Ferne im Chor, wenn sie mich erspähen. „Please sit with us!“, ruft einer der Jungs, der mit seinem Bruder, seinen Schwestern und seiner Mutter in der offenen Garage am Tisch sitzt. Ich muss weiter, aber verspreche, auf dem Rückweg ein wenig bei ihnen zu verweilen. Nachdem ich also mit den Kleinen in Gangabu storytime gemacht und Hans Christian Andersens Märchen „Die wilden Schwäne“ aufgeführt habe, halte ich mein Versprechen und setze mich auf dem Rückweg zu der Familie in die Garage. Natürlich bleibt es nicht nur bei dieser einen Familie – nein, die ganze Nachbarschaft schart sich um mich, bestimmt zwanzig Leute. Interessiert fragen sie mich aus über mein Leben in Deutschland und was mir in Nepal am besten gefällt. Eines der Mädchen zeigt sogar Interesse, in Deutschland zu studieren. Aus der kleinen Stube holen sie Kekse und ein Glas Tee mit Milch*. Viel besitzen sie bestimmt nicht, aber der Gast wird eben königlich behandelt. (Weiteres Beispiel: Ich sitze auf einem Hocker. Einer der Jungs sitzt vor mir auf dem Tisch. Als sein Vater dazukommt, ermahnt er ihn im strengen Ton, sofort vom Tisch zu gehen – nicht, weil auf dem Tisch sitzen eine Unsitte wäre, sondern weil er höher sitzt als ich. Und ich bin der Gast – es ist unhöflich, höher zu sitzen als der Gast.) Was mir also in Nepal am besten gefällt, wollen sie wirklich wissen? Als ob ich auch nur eine Sekunde nachdenken müsste, was ich darauf antworte: „The Nepalese people.“ Sie machen große Augen. „You are the nicest people in the world“, erkläre ich. „You make me feel like home.“ Ich freue mich bereits auf den nächsten Marsch nach Gangabu und ein Wiedersehen mit meiner Gang. Aber noch mehr freue ich mich darauf, gleich mit den Großen Sport zu treiben oder Karten zu spielen, umarmt zu werden und Umarmungen zu geben. Ein brother zu sein. Glück zu verspüren und Glück zu geben.
*Mit dem Tee ist das sowieso so eine Sache: Ich habe bewusst noch nie nachgefragt, was mir da ständig, wenn ich irgendwo zum Tee eingeladen werde, serviert wird – ich bin mir aber ziemlich sicher, dass es schwarzer Tee ist. Nur bringe ich es einfach nicht übers Herz, diese Gastfreundschaft abzulehnen (bei Alkohol wäre das sicher was anderes). So judge all you want, aber für ein höheres Gesetz brech ich dann gern auch mal ein niedrigeres … :)
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Mr. & Mrs. Kitty (Freitag, 10 April 2015 10:53)
Als ich damals in Japan gefragt wurde, was mir am besten gefällt, habe ich auch "nihonjin" (die Japaner) geantwortet. Die sind aus allen Wolken gefallen. Es freut mich wirklich, daß es Dir ähnlich geht. Ich wünsche Dir noch eine wunderschöne Zeit bei Deiner neuen großen Familie.
Cordel (Sonntag, 12 April 2015 13:25)
Jedes Mal, wenn ich den aktuellen Bericht von dir lese, bin ich gerührt, überwältigt von diesem unkomplizierten Miteinander dort, der kindlichen Liebe...es ist soooo einfach und die Welt bräuchte viel mehr davon. Ich war von Anfang an überzeugt, dass dieses Praktikum für dich eine Erfahrung wird, die nicht gemessen werden kann und genau so wird es sein. Ich bin so stolz auf dich, dass du dich getraut hast, dass du es gewagt hast, deinen Alltag gegen Nepal einzutauschen. Wenn du wieder zu Hause bist, übernehme ich gerne das Rasieren und Streicheln deines Kopfes.