Neugierig steckt Rapten (oder ist es Norden? Ich kann das kleine Muttermal an Nordens linkem Auge, dank dessen ich die Zwillinge unterscheiden kann, vom Bett aus eh nicht erkennen) um 5:30 Uhr den Kopf ins Zimmer der uncles. „Lazy uncle!“, ruft er mir zu, als ich verschlafen den Kopf hebe. Ich gehe jetzt erst immer nach dem Frühstück runter nach Gangabu, weil ich von 6:00 bis 8:00 mit Shioba lerne. Sie wohnt mit ihren Schwestern in der Nähe und ist neu im Programm, aber eben nur tagsüber. Ihr Englisch ist nicht gut und sie braucht dringend Nachhilfe, um auf den Stand ihrer Altersgenossen zu kommen. Also übe ich nun jeden morgen mit ihr Vokabeln, übe lesen, lasse sie Diktate schreiben. Immerhin bedeutet das für mich, dass ich noch nicht um 5:30 Uhr aus dem Haus muss, sondern ein bisschen länger liegen bleiben kann. Für die Kinder, die alle gegen 5:00 Uhr aufstehen, völlig unverständlich. Man geht hier sehr früh zu Bett und steht eben auch sehr früh auf. Von 6 bis 8 wird gelernt. Jeden Tag. Und man bedenke: Derzeit sind Ferien. Das heißt, konkrete Hausaufgaben stehen gar nicht an, sondern Stoff wird wiederholt und vertieft. Ich frage mich, wie wohl ein deutscher Schüler reagieren würde, wenn man ihn verdonnert, in den Schulferien von 6 bis 8 Uhr morgens zu lernen. Das ist sicherlich schon als Höchstmaß an Strafe anzusehen. Hier gehört es zur ganz normalen Tagesroutine. „Iʼll get up in a minute“, verspreche ich großzügig und wälze mich noch mal zur Seite. So langsam erwacht das Leben im Zimmer. Leo und Steffen machen sich auf dem Weg nach Gangabu, ich pule mich aus dem Bett, ziehe mir nur Shorts und meine Sweatjacke über. Klogang, Zähneputzen, und kaum bin ich zurück im study room, sitzen da schon alle fleißig und lernen mit Navaraj, es sei denn, dieser hat eines der Kinder beauftragt, das Lernen zu leiten.
Shioba sitzt an einem separaten Tisch. Das Lernen mit ihr ist ein wenig mühselig, weil sie große Defizite hat. Ein großes Problem sind die unglaublich fehlerhaften Lehrbücher. Vokabelfehler, falsche Grammatik – jeden Morgen sträuben sich mir die Nackenhaare. Ein weiteres Problem ist die nepalesische Aussprache von Englisch. Die Nepalesen erfassen manche Laute anders als wir. Ich bemühe mich hier schon, äußerst deutliches Englisch zu sprechen, und trotzdem schaut mich Shioba oft mit großen Augen an, wenn ich ihr etwas diktiere. Selbst wenn ich es in Silben auftrenne, weiß sie nicht, wie sie das Wort beginnen oder enden soll. „Generateen“, lese ich. „Write ‚nation‘“, fordere ich sie auf. Ah, das kennt sie irgendwoher. Mit dem roten Kuli tippe ich auf die Endung. „-shen“, lese ich. „And now: ge-ne-ra-tion.“ Irgendwann klapptʼs. Ob sie versteht, was das Wort eigentlich bedeutet, bezweifle ich. But one problem at a time.
Steffen, Leo und ich fahren nachmittags ins nahegelegene Einkaufszentrum, quasi vergleichbar mit einem Kaufhof oder Karstadt inklusive einem großen Supermarkt. Wir brauchen ein paar Hygieneartikel und haben Heißhunger auf Schokolade, und da ja alles andere so billig ist, ignorieren wir die horrenden Preise und die Tatsache, dass wir Schoki in Deutschland viel günstiger bekommen. Außerdem geraten wir in die Spieleabteilung und beschließen spontan, ein paar Bälle für die Kinder zu kaufen, darunter ein vernünftiger Basketball und ein Volleyball. Steffen spielt im Verein und möchte den Jungs Volleyball beibringen. Aber im Kreis pritschen und baggern ist natürlich nicht genug – unten an der Straße kauft Steffen für umgerechnet 2 Euro eine sechs Meter lange Bambusstange, zersägt sie mit den Jungs in zwei Teile und errichtet auf dem Bolzplatz ein Volleyballnetz (nun gut, mit Leine statt mit Netz, aber trotzdem cool, oder?). Da die Jungen allgemein so unglaublich talentiert mit Bällen umgehen können, ist die Lernphase ziemlich kurz. Nur wenig später stehen zwei Mannschaften à fünf Spielern auf dem Feld und spielen über zwei Stunden lang in der prallen Sonne. (Wir sind sehr darauf bedacht, dass der Ball nicht den Hang runter ins Gebüsch fällt, weil dort am Vormittag eine große Giftschlange gesichtet wurde.) Es macht tierisch Spaß. In Windeseile können die Jungs pritschen, baggern und schmettern, und wir haben richtig gute Ballwechsel. Jede Mannschaft entscheidet ein Match für sich. Mit Ramesh und Umesh bilde ich ein hervorragendes Team in Sachen Annahme, Stellen und Schmetterball. Nun muss ich sie nur noch mit Mila bekanntmachen und schon wird die Welt zu einem besseren Ort.
Leo hat am 1. April Geburtstag und wird zarte 19. Das muss gefeiert werden. Nach Rücksprache mit Ellen verzichten die volunteers abends aufs Dal Bhat und machen sich auf nach Thamel. Zunächst einmal geht es mit der gemütlichen Zehnerrunde ins allseits beliebte OR2K (davon habe ich ja schon berichtet), wo wir in diverse kulinarische Ekstasen geraten. Ich möchte nur noch mal betonen: Mir macht es wirklich überhaupt nichts aus, morgens und abends Dal Bhat zu essen. Aber halt ab und zu eine kleine Abwechslung zu haben, schadet ja auch nicht. Heute gibt es Mushroom-Burger – die Frikadelle besteht aus Pilzen – mit Coleslaw und Pommes. Und ich glaube, es ist der leckerste Burger, den ich jemals gegessen hab. (Oder es ist der Rückfall nach dem Entzug.) Ich gönn mir sowohl ein Bananen-Lassi als auch eine frische Minzlimo (ebenfalls der Hammer) und sogar ein Dessert (2 große Getränke plus Hauptgericht plus Dessert = knappe zehn Euro). Zwischendurch wird munter herumgereicht, denn man will ja auch bei den anderen mal probieren. Das Ambiente ist ja ohnehin nett, aber auch die Atmosphäre sehr nett. Ich bin fünfzehn Jahre älter als quasi alle anderen, aber sie geben mir zumindest nicht das Gefühl, der Opa der Runde zu sein. Abgesehen davon meinte Steffen neulich, er hätte mich anfangs für ungefähr 21 gehalten. So jung wurde ich schon lang nicht mehr geschätzt. :) Nach dem leckeren Essen geht es noch in die Rockbar Purple Haze, wo Leo, Gwen, Anna und Nina die Tanzfläche stürmen, wir anderen gemütlich am Tisch chillen und Shisha rauchen. (Okay, ich hab nicht mitgeraucht. Ehrlich.) Es ist zu laut für Gespräche, aber die Musik ist gut. Zumindest bis der Open-Stage-Teil beginnt und die gruseligste Fassung von „Zombie“ (The Cranberries) ins Mikro gebrüllt wird, die wir je gehört haben. Es wird immer lauter und schriller und am Ende sitzen wir alle nur noch mit schmerzverzerrtem Gesicht da, während der Typ vom Nachbartisch laut ruft: „Make it stop! Make it stop!“ Um kurz vor eins sind wir dann im Bett. Ist natürlich spät, wenn man bedenkt, dass der Wecker um halb sechs wieder klingeln wird, aber es hat auch gut getan, mal rauszukommen und was vom Nachtleben mitzubekommen.
Am nächsten Nachmittag laufe ich mit den großen Jungs runter nach Gangabu. Die Jungs aus der zehnten Klasse geben den Kleinen in verschiedenen Fächern Unterricht. Zum einen hilft das den Großen, Verantwortung zu übernehmen, zum anderen haben sie so auch ein wenig Zeit, sich um ihre brothers und sisters zu kümmern. Auf dem Rückweg fragt mich Praman, ob ich gern Nudeln esse. Ich berichte ihm, dass wir in Deutschland sogar recht oft Nudeln essen. Daraufhin wollen mir die Jungs Nudeln kaufen. Zuerst lehne ich zögerlich ab, aber sie bestehen darauf. Es ist so: Die Nepalesen essen die kleinen asiatischen Nudeln à la Ramen als Snack. Also ungekocht, einfach in der Packung kleindrücken und als Chips-Ersatz aufnaschen. Aber nicht nur das, die Jungs kaufen mir auch noch eine Packung Schokokekse. Ich fühle mich eigentlich furchtbar: Die haben doch kaum was. Und trotzdem bedeutet es ihnen die Welt, mir, ihrem uncle, eine Freude zu machen. Die ungekochten Nudeln sind trocken, die Kekse fast wie Staub im Mund. Aber während wir die restliche Strecke zurück nach Dhapasi marschieren und vergnügt snacken, kann ich mir gar nichts Köstlicheres vorstellen.
Und zum heutigen Abschluss: Ishwar wollte gern, dass ich ein Foto von ihm und mir schieße. Sowas lasse ich mir doch nicht zweimal sagen. :)
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Gabi (Donnerstag, 02 April 2015 19:33)
Ach, das klingt alles so cool! Meine Ferien sind um 18.00 h heute eingeläutet worden, aber ich glaub nicht, dass ich morgen um 5.00 h aufstehen werde, um zu lernen :) (Hab meine erste Klausur übrigens bestanden.) Kommen sämtliche Praktikanten eigentlich aus Deutschland? Vor den Kindern sprecht ihr aber wahrscheinlich nur Englisch, oder?
Sei lieb gedrückt! Süßes Bild, das mit Ishwar!
Mama und Papa (Donnerstag, 02 April 2015 22:23)
Das Abenteuer geht weiter. Jeden Morgen so früh raus, das ist wirklich eine Herausforderung, aber du schaffst das schon. Die Kinder sehen so glücklich aus, das ist der beste Lohn den du dir vorstellen kannst.
Eva (Freitag, 03 April 2015 00:06)
Echt toll, dein Blog, Ben!! :-)
Fühlt sich wirklich ein Stück so an, als sei man dabei gewesen! Schön, dass du dich dort sichtlich wohlfühlst und dass du - ebenso deutlich sichtbar - so viel Liebe fuer die Kinder hast und auch von ihnen so viel zurückkommt!! Die Fotos von Kathmandu sprechen auch echt für sich . . . Ich könnt das dort bei dem Smog und Dreck bestimmt keine 2 Tage aushalten - einmal mehr Hut ab vor dem Elan und der positiven Einstellung, mit der du an all das rangehst!! Und danke, dass du uns so lebendig daran Anteil nehmen lässt!!
Herzliche Gruesse von deiner erklärten Lieblingskollegin Eva
(P.S. Hab deinen Auftrag erfuellt u die Demonstranten doch noch mit meinem Wagen verprügelt - nur den Selfie hab ich leider versehentlich gelöscht, sodass mir nun mein Beweismaterial fehlt, zu dumm aber auch ;-) )
Jessi (Freitag, 03 April 2015 08:13)
Ach, die trockenen Noodeln habe ich als kind gern gegessen! (komisch, ich Weiss) Auch mit Gewurz dazu!
Es ist wirklich schön, dass wir das Leben dort miterleben dürfen! Danke dir, und bitte weiter so!
Mj (Freitag, 03 April 2015 11:17)
ich Wein gleich.., wie schön!