Es geht los. Aber sowas von.

Die Nacht ist weniger durchwachsen als erwartet. Das Gekläffe und Gejaule der unzähligen Straßenhunde verklingt zu keiner Stunde, der Hahn ein paar Häuser weiter beginnt den Tag fröhlich um 4 Uhr. Dank Ohropax alles gar nicht so sonderlich problematisch. Durchschlafen kann ich trotzdem nicht, bekomme aber weitaus mehr Ruhe als befürchtet. Ich stehe um Viertel nach fünf auf, damit ich um halb fertig bin. Ellen, die Vereinsleiterin, die bis nach Ostern hier sein wird, ist schon bereit – sie hat ihr Zimmer in Dhapasi, nimmt mich aber heute mit nach Gangabu zu den jüngeren Kindern, damit ich die kennenlerne. Von 6 Uhr bis 8 Uhr morgen ist nämlich Lernen angesagt. Grundsätzlich an jedem Schultag, aber heute und morgen sind die Schuljahresabschlussprüfungen, dann zwei Wochen Ferien. Kurz nach dem nepalesischen Neujahr Mitte April beginnt dann das neue Schuljahr.


Der Marsch runter nach Gangabu dauert eine gute halbe Stunde, wobei Ellen mir gleich versichert, dass sie etwas langsamer ist und man normalerweise mit 20 bis 25 Minuten rechnen soll. Einprägen kann ich mir den Weg noch nicht, er ist auch überhaupt nicht linear. In Gangabu lerne ich Nadine kennen, die seit bereits sieben Monaten Praktikantin ist, eine echte Veteranin also. Sie kennt sich perfekt in allem aus und gibt mir eine freundliche kurze Einführung, dann muss aber gleich gelernt werden. Ich setze mich mit Sabitri nach oben. Sie hat heute ihre Abschlussprüfung in „Social“, was auch immer das bedeuten soll. Es wirkt wie ein bunter Mix aus Erdkunde und Sozialkunde, aber ein richtiger Zusammenhang erschließt sich mir nicht, denn auf die in sich schon seltsame Frage „What are some instruments doctors and shopkeepers work with“ folgt ein Schaubild, das aufzeigt, aus welchen drei Schichten der Planet Erde zusammengesetzt ist. „Lernen“ läuft hier übrigens anders ab, als wir es kennen. Denn sowas wie selbständiges Denken gibt es in den nepalesischen Schulen nicht. Die Kinder gehen im Unterricht Fragen mit den jeweiligen Antworten durch und lernen diese Wort für Wort auswendig, weil sie nämlich Wort für Wort abgefragt werden. Das Schulmaterial strotzt vor Fehlern, aber es wird davor gewarnt, etwas daran zu ändern. Im schlimmsten Fall ernten die Kinder dafür nämlich Ohrfeigen, weil sie Material verfälschen – obwohl sie es ja eigentlich korrigieren.


Ich gehe mit Sabitri die einzelnen Fragen durch, wobei sie nur bei einer einzigen Schwierigkeiten hat, die richtigen Jahreszahlen im Kopf zu behalten. Ich lasse sie noch ein paar der schwierigen Wörter aufschreiben. Nebenbei schlürfe ich die heiße Milch, die es hier morgens dazugibt. Es ist wohl ein Mix aus Kuh- und Büffelmilch, leicht gesüßt, und ehrlich gesagt leckerer als jegliche Milch, die ich aus Deutschland kenne. Vom Geschmack her ein wenig milchreisig.


Bevor es zum Frühstück geht, gibt es draußen auf dem Hof „Morgensport“. Nadine und Ellen machen Bewegungsspiele („Tu, was ich tue“ und dergleichen) und die Kinder brüllen begeistert mit. Ich hample vorne mit herum, obwohl ich die wenigsten Reimlieder auswendig kann (außer den PV-Liedern :D) und daher nur die Bewegungen in wenig imitiere. Zu einem leichten Entsetzen muss ich feststellen, dass die knapp 45 Kinder eigentlich alle gleich aussehen. Da hilft es auch nicht, dass alle Jungen den gleichen Haarschnitt haben, ebenso wie alle Mädchen. Ich frage ein paar nach ihrem Namen und bekomme ihn mitunter auch nach vier Versuchen noch nicht hin. Was die Kids natürlich äußerst lustig finden. „Iʼll just call you Superman, Iron Man and Batman!“, ruf ich den drei Jungen zu, worüber sie noch mehr lachen müssen. Na ja, irgendwann wird es mir schon gelingen, mir die nach und nach zu merken.


Beim Frühstücks-Dal-Bhat klappt das Essen mit der rechten Hand gleich schon besser als am Vorabend. Heute gibt es Bohnen als Gemüse. Reis und Linsensoße zum Frühstück mögen ein gewöhnungsbedürftiger Gedanke sein, aber dadurch, dass ich schon seit über drei Stunden wach bin, finde ich es eigentlich überhaupt nicht schlimm. Und es schmeckt mindestens genauso lecker wie am Abend, wobei für die Jüngeren die Würze etwas entschärft wird, das hatte mir bei den Größeren noch mehr gemundet. Ellen isst mit dem Löffel und sagt mir, es wäre überhaupt kein Problem, wenn mir das lieber sei. Sie hätte sich an das Essen mit der Hand auch in fünfzehn Jahren nicht gewöhnen können. Mich stört das gar nicht, ich finde sogar, die Sauerei hat ihren Reiz. :)


Es ist noch etwas Zeit, bis der Bus kommt, also werden die Bewegungsspiele fortgesetzt. Die Kinder tanzen sogar schon einen kleinen Cha-cha-cha. Zuerst allein, dann in Pärchen. Alles ohne Musik, man brüllt den Takt einfach mit. Nadine und ich tanzen vor, die kleinen Pärchen machen begeistert mit. Es tanzen streng nur Jungen mit Jungen, nur Mädchen mit Mädchen. Ellen erklärt, obwohl sehr stark darauf geachtet wird, dass Jungen und Mädchen in allem gleich behandelt werden und es auch keinerlei geschlechtsspezifische Aufgaben in der Einrichtung gibt, ist es trotzdem enorm schwer, die Geschlechter zu mischen. Da sind selbst die Kleinen kulturell schon arg geprägt.


Wir begleiten die Kinder zum Bus. Mir braucht niemand erklären, was ich da machen muss, denn zwei kleine Jungen ergreifen rechts und links meine Hand und ziehen mich nach vorne, alle anderen stellen sie paarweise hinter uns, dann geht der Marsch die Straße runter, wo wir auf den Bus warten. Als die Kinder an uns vorbeirennen, um im Bus Platz zu nehmen, gibt uns jeder noch ein High Five, das allerdings sehr individuell ist. Mal eine Hand, mal beide, mal ein Mix.


Nadine und ich nehmen einen Bus zum Flughafen und holen zwei weitere Praktikanten ab, die heute ankommen. Damit sind wir insgesamt zu acht, was relativ viele sind (allerdings sind Pia und Manu heute mit Anna und Nina auf eine einwöchige Rundreise aufgebrochen, insofern sind wir nur offiziell acht). Es ist interessant, mit Nadine zu plaudern, die, gerade mal 19, so reif wirkt, einfach durch alles, was sie in all den Monaten über diese Kultur gelernt hat. Während wir auf Leo und Gwen warten, entdecken wir außerdem das eifrige Empfangskomitee eines indischen Nobelpreisträgers, der heute nach Kathmandu kommt. Man heißt ihn herzlich willkommen und überhaupt ihn hierzu mit etlichen Schals. Ich würde eingehen. Ich liebe die Temperatur, aber die Sonne brät mir ganz schön den kahlen Kopf. 1300 Meter Höhenunterschied intensivieren den Schmorgrad doch noch mal, aber ich hab mich ja eingecremt, keine Sorge.


Das Taxi bringt Leo und mich nach Dhapasi, und hier verbringen wir auch den Nachmittag und Abend. Ich spiele mit ein paar Jungs Scrabble (meine Oma wäre so stolz auf mich), da es draußen gerade gießt, dann tippt mir Umesh auf die Schulter. Er hat gehört, dass ich Klavier spiele, und hat im Erdgeschoss bereits das Keyboard bereit gestellt. Es ist wirklich ein ganz kleines Krüppelteil, auf dem man nicht mehr als drei Tasten runterdrücken darf, sonst funktioniert nix mehr. Er spielt mir stolz eine kleine nepalesische Melodie vor, die er im Klavierunterricht gelernt hat. Ich hab ein bisschen Chorliteratur mitgebracht und spiel und sing ihm „Lean on me“ vor, dann gehen wir die Melodie nach und nach durch. Irgendwann spielt er sie und ich sing nur noch mit, und er freut sich wie soʼn Schneekönig. Das Wetter hat sich gelegt und ich spiele noch draußen mit Sunil, JP, Sujan, Ramesh, Dinesh und Sujan 2 Ball (einer steht in der Mitte und muss ihn fangen). Die Mädchen flechten Bänder, die übrigen Jungs spielen Badminton. So genau inmitten der Ballrunde. Ich nehme an, sie könnten auch auf den Bolzplatz gehen und dort spielen, aber irgendwie fühle ich mich noch nicht in der Lage, solche tollkühnen Vorschläge zu machen.


Dann holen die Jungs eine englischsprachige Zeitung und scharen sich um mich. Was genau sie wollen, verstehe ich gar nicht – übrigens fällt es mir ohnehin noch sehr schwer, sie zu verstehen, denn ihre nepalesische Aussprache von Englisch ist tricky. Irgendwie geht es wohl um die Weltmeisterschaft im Cricket, aber wir kommen auf Fußball zu sprechen, zu diesem Thema habe ich schließlich bedeutend viel beizutragen. Aber ich brauche nur ein paar Namen von deutschen Nationalspielern einwerfen und ernte Jubel, während die Jungs, die hinter mir stehen, neugierig meine Glatze begrabbeln. Man gönnt sich ja sonst nichts.


Vor dem Abendessen reihen sich alle vor dem Haus auf. Leo fragt Navaraj, der das Dhapasi-Haus leitet, was genau wir jetzt tun sollen, weil die Kids alle so erwartungsvoll schauen. Ich glaube, eigentlich warten sie nur darauf, dass das Essen fertig aufgetischt ist, aber Navaraj schlägt uns vor, ein bisschen Abendsport mit ihnen zu machen. Da ich seit ner Woche keinen vernünftigen Sport getrieben habe, gibt es also erst einmal ein sattes Insanity-Warmup. Na gut, in einer abgespeckten, kinderfreundlichen Variante. Aber spätestens jetzt hab ich das Gefühl, endlich angekommen zu sein. :)


P.S. Ich weiß nicht, ob sich gegebenenfalls noch Magenprobleme oder so einstellen, aber bislang merke ich überhaupt nichts. Ganz im Gegenteil: Mein Stuhlgang heut war einfach hervorragend. Ich musste nur ein einziges Mal abwischen, schon was alles sauber. Welch ein herrlicher Segen!

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Kommentare: 8
  • #1

    Gerald (Mittwoch, 25 März 2015 15:39)

    Und ich habe mich schon so brennend gefragt wie Dein bzw. der Stuhlgang eines Durchschnittsnepalesen so ist.
    Danke, macht Spaß das alles zu lesen Bro, echt spannend. High-Five!
    LG von Deinem Bro

  • #2

    fo shizzle (Mittwoch, 25 März 2015 16:03)

    geduscht haste wohl noch nicht, wa?

  • #3

    Mj (Mittwoch, 25 März 2015 17:15)

    :))))
    Na was für ein Glück.
    Ich freu mich auf Bilder!
    (... die vom Stuhlgang kannst du ruhig weglassen ... :) )

  • #4

    Stef (Mittwoch, 25 März 2015 17:47)

    na herzlichen Glückwunsch zum guten Stuhlgang!!

    Und den Rest hab ich auch gelesen! Sehr cool!!!

  • #5

    Markus (Mittwoch, 25 März 2015 19:27)

    Toller Bericht Ben, ich freu mich schon darauf mehr von dir zu hörenund ein paar Bilder dürfen natürlich nicht fehlen :D

  • #6

    BigSis Anja (Donnerstag, 26 März 2015 18:51)

    Na, das klingt ja alles spannend! Deine Stuhlgang-Geschichten besonders... Ich klopf mir schon auf die Stirn und sage mir: "Keine Bilder... keine Bilder..."
    Es tut gut zu hören, dass du dich wohl fühlst! :)

  • #7

    Cordel (Freitag, 27 März 2015 08:23)

    Was für eine glückliche Nachricht: dein Stuhlgang ist ok! Ich bin so froh das zu hören! Im Ernst Ben, deine Tagebucheinträge hören sich gewaltig nach Spaß und Gutes tun an - die Kinder werden dir so viel zurück geben. Ich bin schon jetzt auf jede weitere Geschichte gespannt und möchte außerdem sofort informiert werden, sollten sich Veränderungen in deinem Stuhlgang ergeben. Hab dich lieb, deine Cordel

  • #8

    Brusten (Samstag, 28 März 2015 15:29)

    Danke für die bildhaften Beschreibungen deiner Eindrücke!